Gleichmut im Labor?

"Gefühlsmenschen" versus "Leidende" in Amerika um 1900

von Rob Boddice

Ein ausgestrecktes Kaninchen, festgeschnallt auf einem Operationstisch, starrt blicklos in den Schein des elektrischen Lichts. Über seinem Kopf schwebt ein Skalpell, das wie ein Stift in der Hand eines weißbärtigen Physiologen in weißem Kittel liegt, bereit zum Schnitt. Das schräg fallende Licht erhellt auch die Geister der Kranken, der körperlich Behinderten und der Siechen, die – vertieft in die Szene – auf ein Ende ihres Leides hoffen. Sie drängen sich in das Labor des Physiologen: ein Kind an Krücken, ein kränkelndes Baby, das sich im Arm seiner verzweifelten Mutter windet, ein blinder Mann. Die anderen Gesichter sind die der Armen, deren eigenes Leben und das ihrer Familie dem Wüten von Polio, Diphterie, Tuberkulose und vielen anderen Krankheiten ausgesetzt sind. Sie sehnen sich nach Sicherheit, nach Impfungen, Seren und heilender Medizin und all ihre Hoffnungen liegen auf der scharfen Schneide des Skalpells des Wissenschaftlers. Diese Leidenden flehen: "Um der Menschlichkeit willen, mach los!"

Auf der anderen Seite des Operationstisches, in den dunklen Schatten, die für Unwissenheit stehen, protestieren die wenigen Wohlhabenden. Die Damen, die in der Mehrzahl sind, sind geschmückt mit Pelzpelerinen und Muffs und verziert mit Federn seltener Vögel. Ein einzelner verweichlichter Gentleman in Ziegenlederhandschuhen steht im Hintergrund. Diese Gruppe von "Gefühlsmenschen", die ihr fehlendes Interesse an Tieren im Wortsinn auf dem Leib tragen, fordern hysterisch: "Um der Barmherzigkeit willen, aufhören!" In der Mitte steht der Physiologe, er ist verärgert, fühlt sich gestört und behindert in seiner Arbeit. Auch sein Assistent kann sich wegen des Gedränges hinter seinem Rücken schwer konzentrieren. Das Versuchskaninchen liegt auf dem Tisch, fixiert in einer Halteapparatur und betäubt durch den Assistenten, bewegungslos und verdinglicht. Niemand schaut auf dieses instrumentierte Wesen. In der Tat ist es das einzige bewegungslose Ding im Raum. Es fühlt nichts inmitten des ganzen Tumultes.

Das Bild, schlicht betitelt mit "Vivisektion", erschien 1911 in einer Ausgabe des Puck Magazins. Es ist offensichtlich, welche Seite das Magazin – ein Pionier der graphischen Satire in den Vereinigten Staaten – in der Vivisektionsdebatte einnahm. Diese Debatte entbrannte in den frühen 1870er Jahren in Großbritannien, flammte etwas später in Deutschland auf und gelangte danach auch in die Vereinigten Staaten. Die Kontroverse verlief parallel zum Aufschwung der Physiologie, die als Spezialdisziplin innerhalb der medizinischen Forschung von Experimenten an lebenden Tieren abhing. Ein großer Teil der Debatte drehte sich um die Auswirkungen, die die Vivisektion auf den Charakter – das Gefühl – derjenigen habe, die sie vornahmen.

Obwohl das Bild deutlich Partei für die Vivisektion ergreift, ist die Repräsentation des Tieres als Objekt in der Tat ein klares Abbild der Art und Weise, wie diejenigen, die der Vivisektion ausgesetzt wurden, behandelt wurden. Besondere Sorge galt den moralischen Qualitäten der Wissenschaftler, die sich als Männer mit Einfluss in der Avantgarde der Gesellschaft befanden. Wenn sie gefühllos, hartherzig und erbarmungslos wären, wäre das Risiko groß, dass die Gesellschaft diesem Beispiel folgen würde. Aus der Perspektive Anti-Vivisektionisten, war die Zivilisation in Gefahr durch die Insensibilität, die Distanziertheit oder die Brutalität dieser einflussreichen Männer.

Caroline Earl White, die Begründerin der American Anti-Vivisection Society (1883), eine angesehene Anti-Vivisektionistin zum Beispiel beklagte, dass Alexis Carrel vom Rockefeller Institut in New York eine "denkende Maschine" sei. In ihm "ertränken die feineren Instinkte der Menschlichkeit in der Leidenschaft für die sogenannte wissenschaftliche Forschung".1 Carrel erhielt 1912 den Nobel-Preis für Physiologie und Medizin.

Die Anti-Vivisektionsbewegung wurde zu großen Teilen von Frauen getragen und die Äußerungen von White spiegelten die Ansichten der führenden Anti-Vivisektionistin in Großbritannien, Frances Power Cobbe wider, die sich laut darüber wunderte, ob "die Förderung der 'noblen Wissenschaft der Physiologie' ein so hohes Ziel der menschlichen Anstrengungen sei, dass das damit zusammenhängende Zurückgehen und Verschwinden der Empfindungen von Mitgefühl und Mitleid nicht von Bedeutung sei?"2 In diesem Kontext scheint das Flehen "Um der Barmherzigkeit Willen" eine direkter Mahnruf zu sein, das Gefühl der "Barmherzigkeit" selbst zu bewahren, damit die Zivilisation bei der Suche nach Wissen nicht verloren ginge. 

Die Anti-Vivisektionsbewegung in den Vereinigten Staaten, deren Rhetorik vom englischen Beispiel vorgeformt war, wurde sofort vom medizinischen Establishment als "weibisch" abgestempelt: eine übermäßig sentimentale oder hysterische Reaktion, die auf einer ästhetischen (im Wortsinn empfindlichen) Antwort auf die Idee oder das Bild des mit Messern hantierenden, verrückten Wissenschaftlers und seinem hilflosen Opfer beruhe. Es schien, dass die öffentliche Debatte sich um die Frage drehte, welche Emotionen in den verschiedenen Kontexten angemessen seien. Es war eine Auseinandersetzung zwischen den rationalen Humanisten der wissenschaftlichen Gemeinschaft, selbsternannten "Männern mit Gefühl", die behaupteten, Emotionen kontrollieren zu können, und den (weiblichen oder verweiblichten) Anwälten des "gewöhnlichen Mitleids", der christlichen Barmherzigkeit oder "Milde", mit ihrer gefühlsgeleiteten oder ästhetischen Basis der Zivilgesellschaft.

Diese graphische Darstellung der Vivisektions-Kontroverse geht mit den Ansichten des medizinischen Establishments in den Vereinigen Staaten konform. Als die Kontroverse in New York und Massachusetts begann, war das Hauptziel, Kontrolle über den emotionalen Diskurs in Bezug auf Vivisektion zu erlangen, Beschwerden gegen die Vivisektion auf puren "Sentimentalismus" zu reduzieren und jede Art von Heuchelei der Vivisektionsgegner aufzudecken. Die Strategie ruhte auf zwei Argumenten: Erstens, der Vorgang der Vivisektion habe keinen schlechten Einfluss auf den Charakter der Physiologen; zweitens, der Erkenntnisgewinn diene, in vielerlei Hinsicht, dem Lindern des Leidens der Menschheit. Diese beiden Argumente wurden miteinander verbunden. Jede sentimentale Reaktion auf das spezifische Setting des physiologischen Labors, im Namen von Mitgefühl oder Mitleid für die Kreatur unter dem Messer, wäre unangemessen oder "falsch". Das Tier war, in den meisten Fällen, narkotisiert und damit schmerzunempfindlich. Das medizinische Establishment achtete sehr darauf, darauf deutlich zu machen, dass das Betäuben mit Chloroform eine übliche Vorgehensweise bei den Operationen war, um Leiden zu verhindern. Wenn der Operateur durch Mitgefühl oder Mitleid beeinflusst wäre, hätte dies nicht Auswirkungen wie eine vielleicht falsche – irrationale – Einschätzung der Situation?  Die moralischen Qualitäten des Physiologen wären nur gefährdet – so die Annahme der Mediziner – wenn er "weiblich" auf die Situation reagieren würde und damit nicht in der Lage wäre, seine Forschung zu betreiben. Die "wahre" mitleidende Reaktion läge am anderen Ende dieser Forschung, in der Linderung des Leidens der Kranken und Behinderten. Die ruhige Art ihrer Praxis erlaube es den Wissenschaftlern, für ein höheres Gut das Mitleid zurückzustellen. Sie seien weit davon entfernt, abgestumpfte Instrumente mit Messern zu werden, so die medizinischen Wissenschaftler, sondern wären dabei, das "wahre" Mitgefühl zu vertiefen und zu erweitern. Dies sei die "Menschlichkeit", ein altes Synonym für Mitleid, das die menschliche Spezies per se umfasse.

William Osler, einer der wichtigsten Verteidiger der Vivisektion, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in England, gab 1889 den graduierten Medizinstudenten der University of Pennsylvania den Rat mit auf den Weg, ihre "Nerven gut im Griff" zu haben und weder "Angst oder Furcht" im Gesicht zu zeigen, auch nicht unter den "ernstesten Umständen". Im Operationssaal müssten sie sich "bis ins Mark unter Kontrolle" haben und ihre Körper "unerschütterlich" machen – in einen Zustand von "Kühle", "Gelassenheit" und "Klarheit des Urteils in Momenten der Todesgefahr" bringen. Ihr Charakter sollte durch "Phlegma" gekennzeichnet sein:

"Ein gewisser Grad an Insensibilität ist nicht nur ein Vorteil, sondern eine Notwendigkeit wenn ein ruhiges Urteil gefällt und schwierige Operationen durchgeführt werden müssen. Eine ausgeprägte Sensibilität ist ohne Zweifel eine hohe Tugend, wenn sie nicht der Ruhe der Hand oder der Kühle der Nerven entgegensteht; aber für den Arzt in seiner Arbeitswelt, ist die Gefühlskälte, die nur daran denkt Gutes zu tun und ungeachtet kleinerer Abwägungen vorwärtsgeht, die bevorzugte Eigenschaft." Er hielt die jungen Ärzte an, "ein vernünftiges Maß von Stumpfheit zu kultivieren", um den "Anforderungen des Berufes an Entschlossenheit und Mut zu genügen, ohne gleichzeitig das 'menschliche Herz, das uns ausmacht' zu verhärten".3

Von 1880 an bis zum Ersten Weltkrieg fand dies ein deutliches Echo in der Verteidigung der Physiologie seitens des medizinischen Establishment in den Vereinigten Staaten. Bei der Verteidigung der Physiologie gegen ein Anti-Vivisektions-Gesetz in der Legislaturperiode 1900 in Massachusetts, betonte zum Beispiel William Thompson Sedgwick (der im darauffolgenden Jahr Präsident der American Public Health Organisation wurde) die "ehrenhafte Reputation" seiner Kollegen und attestierte, dass Vivisektion "den Menschen menschlicher und zartfühlender" mache.4 1908 beauftragte die American Medical Association Walter B. Cannon von der Harvard Medical School einen Rat zur Verteidigung der medizinischen Forschung (Council on the Defense of Medical Research) einzuberufen. Cannon machte sich daran, eine Kampagne zu organisieren, die die Öffentlichkeit über die Errungenschaften der Physiologie informieren sollte.  "Sensationsmacherei" sollte allzeit vermieden und "Gefühlsduselei" umgangen werden. Die Aufklärung sollte "nüchtern" sein und Vernunft vorherrschen.5 Das medizinische Establishment holte sogar gegen die Damen der Society aus, die in ihren Augen den Kern der Anti-Vivisektions-"Hysterie" bildeten. William Williams Kern, ein führender Hirnchirurg und mehrfacher Präsident der American Surgical Association, der American Medical Association und der American Philosophical Society, schrieb 1910 einen Artikel für das Ladies’ Home Journal (es wurde erneut veröffentlicht als Pamphlet XIV in den Council on the Defense of Medical Research Series, und auch in seinen gesammelten Werken: Animal Experimentation and Medical Progress, 1914) Er fragte darin schlicht, wenngleich rhetorisch, was "grausamer" sei: Experimente an Tieren "mit dem klaren und heiligen Zweck ein Mittel gegen eine tödliche Krankheit zu finden um hunderte von menschlichen Leben zu retten; oder die Frauen, die 'zornig aufgeplustert' gegen alle Experimente an lebenden Tieren sind."?6 Dieser sentimentale Zorn war, sowohl für Keen als auch die Mehrheit seiner Kollegen, eine unangebrachte Emotion. Die Kampagne für die Verteidigung der medizinischen Forschung bemühte sich, diese Emotion zu überwinden.

Das Bild in Puck fängt diesen Wettstreit um die Gefühle des Physiologen sehr präzise ein. Sollte er – eingedenk seiner christlichen Erziehung  – diese "sanften Barmherzigkeiten" bewahren, die die Eckpfeiler der Philanthropie des Gilded Age bildeten? Oder sollte er seinen mitleidigen Blick eher auf das nicht sichtbare Leiden der Menscheit richten und mit "Gleichmut" praktizieren?

Die rasche Entwicklung der Physiologie in den frühen Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts und fehlende Fortschritte der amerikanischen Anti-Vivisektionisten vor dem Zweiten Weltkrieg, nehmen die Antwort vorweg: Im Namen der "Menschlichkeit" schritt die Physiologie weiter voran.

Referenzen

1 Zitiert in einem offenen Brief an George H. Simmons, geschrieben von Grace D. Davis, Sekretärin der Society for the Prevention of Abuse in Animal Experimentation (Gesellschaft für die Verhinderung von Mißbrauch in Tierversuchen), 12 Nov. 1908. Countway Library of Medicine, Harvard Medical School, Walter B. Cannon archive, H MS c40, Box 28, Folder 333.

2 The Times (London), 19 Apr. 1881.

3 William Osler, "Aequanimitas," in Aequanimitas: With Other Addresses to Medical Students and Practitioners of Medicine, 2nd edn (Philadelphia: Blakiston’s, 1925), 3-6.

4 "Remarks of W.T. Sedgwick on Vivisections restriction bill. 1900," Sedgwick to Ernst, 10 Apr. 1900, Countway Library of Medicine, Harvard Medical School, Walter B. Cannon archive, H MS c40, Box 26, Folder 309.

5 Cannon an John G. Clarke, 16 Nov. 1908, Countway Library of Medicine, Harvard Medical School, Walter B. Cannon archive, H MS c40, Box 28, Folder 332.

6 W. W. Keen, "What Vivisection Has Done for Humanity," Animal Experimentation and Medical Progress (Boston and New York: Houghton Mifflin, 1914), 222.

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