"AIDS geht alle an!"

Rita Süssmuths Ratgeber "AIDS. Wege aus der Angst" (1987)

von Magdalena Beljan

Mitten in der "Aids-Krise", 1987, veröffentlichte die CDU-Politikerin Rita Süssmuth, damalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit in der BRD, ein Buch mit dem Titel AIDS. Wege aus der Angst.1 Das Cover kündigte "Informationen Beratung Adressen" an. Süssmuth wolle, so schrieb sie im Vorwort, den Bürgern ihre Politik verständlich machen:

Dieses Buch soll dazu beitragen, Unsicherheit und Ängste abzubauen, indem wir das heute verfügbare Wissen der Experten weitergeben. Der Öffentlichkeit sollten unterschiedliche Standpunkte nicht verborgen bleiben. Sie sollten in die Lage versetzt werden, diese unterschiedlichen Auffassungen nachvollziehen und sich selbst ein Urteil bilden zu können. Angst läßt sich nur schwerlich abbauen, wenn der einzelne befürchten muß, daß ihm wichtige Informationen vorenthalten werden bzw. Wissen nur gefiltert weitergegeben wird.2

Dem Medium des Buches wurde hier das Potential unterstellt, einen direkten Einfluss auf das Gefühlsleben des Lesers zu haben. Wissensakkumulation könne der Gefühlsregulation dienen. Unhinterfragt wurde aber auch davon ausgegangen, dass genau ein Gefühl im Zusammenhang mit Aids beim potentiellen Leser dominant sei: "die Angst". Damit rekurrierte Süssmuth auf ein zentrales Element des Aids-Diskurses der 1980er Jahre: Immer wieder wurde in populären Medien, aber auch in Umfragen und Analysen, "die Angst" vor der neuen, bis dato unbekannten Krankheit in den Vordergrund gestellt. Auch in groß angelegten demoskopischen Untersuchungen wurde und wird auch noch heute regelmäßig gefragt, wie viel Prozent der Befragten "Angst vor Aids" habe. Was genau diese Angst ausmacht, bleibt jedoch zumeist vage. Und auch wie Angst definiert wurde, wer Angst empfunden haben soll und von wem sie artikuliert wurde, veränderte sich – ebenso wie die Krankheit – im Laufe der Jahre.

Die Annahme einer allgemeinen Aids-Angst erscheint zunächst plausibel, wenn man bedenkt, dass die "Diagnose Aids" Anfang der 1980er Jahre den Betroffenen, die häufig bereits kurz nach den ersten Krankheitsanzeichen verstarben, wie ein Todesurteil erscheinen musste. Doch sprach Süssmuth mit ihrem Ratgeber nicht allein Erkrankte und Infizierte an. Vielmehr ging es ihr darum, eine allgemeine Betroffenheit herzustellen. Häufig wurde die CDU-Politikerin, die 2006 auch zur Ehrenvorsitzenden der Deutschen AIDS-Stiftung ernannt wurde, in der Vergangenheit für ihre liberale und vorausschauende Aids-Politik gelobt. Dabei wurde ihr sachlicher Stil in einer stark emotionalisierten Politik hervorgehoben. Schaut man sich jedoch ihr Buch von 1987 näher an, verwundert diese Einschätzung. Denn gerade hier lassen sich exemplarisch Strategien der Emotionalisierung von Politik und der Politisierung von Emotionen aufzeigen, die alles andere als "sachlich" sind. Denn Süssmuths Buch griff den Angst-Diskurs der 1980er Jahre auf, um ihn ihrer Politik der Betroffenheit gegenüber zu stellen.

Erstmalig diagnostiziert wurde Aids in Deutschland im Juli 1982 bei einem Patienten in Frankfurt a.M. Bereits zwei Monate zuvor hatte Der Spiegel von einer mysteriösen Krankheit berichtet, die in den USA um sich greife. Besonders homosexuelle Männer seien von jener Krankheit betroffen, die relativ schnell zum Tode führe. Auch in Deutschland waren zunächst primär homosexuelle Männer betroffen, daneben aber auch sogenannte Bluter und intravenöse Drogenkonsumenten. Als Auslöser für die zahlreichen Krankheitssymptome wurde wenige Jahre nach dem ersten Erscheinen der HI-Virus identifiziert – denn konkret handelt es sich bei dem Acquired Immune Defience Syndrom nicht um eine Krankheit, sondern um eine Immunschwäche, die eine größere Anfälligkeit gegenüber einer Vielzahl anderer Erkrankungen provoziert. Aus heutiger Perspektive erscheinen zahlreiche Berichte in der Presse, aber auch damalige Einschätzungen von Virologen und anderen Experten stark dramatisierend. So wurde bereits zeitgenössisch kritisiert, die Medien würden mit ihrer Darstellung Ängste vor der Krankheit, aber auch vor Minderheiten, die mit dem Virus in Verbindung gebracht wurden, schüren. Doch auch wenn sich rückblickend leicht darüber urteilen lässt, muss berücksichtig werden, dass es sich bei Aids um eine bis dato unbekannte Krankheit handelte, für die es noch keine Therapieansätze gab, und bei denen sich auch Experten uneins waren, wie viele Personen betroffen sein würden. Deutlich war nur: Innerhalb kürzester Zeit waren zahlreiche Menschen verstorben. Und die Zahlen stiegen. Angst zu haben wurde daher von Süssmuth als natürliche und nützliche Reaktion beschrieben. In ihrem Buch ging sie erstens davon aus, dass alle Bürger Angst vor Aids haben und dies auch selbstverständlich sei. Denn die Abwesenheit von Angst führe nur zu einem leichtfertigen Verhalten. Somit habe

Angst [...] eine für den Menschen gute und eine abträgliche Seite: Sie schützt den Menschen vor riskanten, leichtfertigen und unbesonnenen Verhaltensweisen und verstärkt so das Bedürfnis, sich vor Gefahren zu schützen. Aber Angst kann auch überwältigen und beherrschen, weshalb sie in den meisten Fällen ein äußerst problematischer, ja ein schlechter Ratgeber. Je stärker Menschen in ihrem Denken und Handeln von der Überzeugung geleitet werden, es liege in ihrer Macht, Lebensrisiken so weit als möglich auszuschalten, desto heftiger reagieren sie auf neue existenzielle Gefährdungen, auf unerforschte und damit noch unbesiegte Krankheiten. Angst macht sich breit angesichts der Erkenntnis, daß wir Menschen trotz aller Wissensfortschritte zugleich Unwissende sind, begrenzt in unseren Möglichkeiten, lebensbedrohende Gefahren zu vermeiden. Diese Erfahrung schlägt sich nieder in der Angst vor dem Unheimlichen, vor der Übermacht dieser Krankheit. Von ihr gehen neue Verhaltenszwänge, Einschränkungen im Intimbereich, Verzicht auf individuelle Freiheiten aus. 3

Es ging Süssmuth also nicht um die Bekämpfung oder um die Negation von Angst, sondern um eine bestimmte Gefühlsregulation.

"Es gilt, sowohl die konkreten als auch die diffusen Angstgefühle konstruktiv zu nutzen, in menschliche Stärken zu verwandeln. Ziel kann nicht die Tabuisierung, die Verneinung von Angst sein. Anzustreben ist vielmehr der produktive Umgang mit ihr; das geschieht immer dann, wenn es gelingt, Wege aus der Angst zu weisen." 4

Man müsse "die Angst" überwinden. So forderte sie "Liebe statt Angst" und wählte dieses Motto auch zur Überschrift ihrer Einleitung. Zweitens behauptete Süssmuth, ohne dass es dafür eindeutige Belege gegeben hätte, dass "die Angst", diejenigen am meisten beträfe, die statistisch betrachtet, das höchste Infektionsrisiko trügen. Damit rekurrierte sie auf das Anfang der 1980er Jahre populäre Modell von bestimmten Risikogruppen, die per se mit einem besonderen Infektionsrisiko belastet seien – und das, obwohl Süssmuth selbst mehrfach betont, genau das Gegenteil bezwecken zu wollen: nämlich nicht Gruppierungen, sondern Praktiken ihrem Risikograd nach klassifizieren zu wollen. Dieser Einstellungswandel, dass es nicht bestimmte Minderheiten, sondern spezifische Praktiken sind, die gefährlich sind, gewann ab Mitte der achtziger Jahre an Bedeutung und war gerade für die Aufklärungsarbeit zentral. 5

Statistisch betrachtet betraf und betrifft Aids als Krankheit jedoch nicht alle gleich stark. Nichtsdestotrotz war es Süssmuths Anliegen, genau das Gegenteil zu vermitteln. Ebenso wie sie davon ausging, dass jeder Angst vor Aids habe (unterschiedliche Gruppen unterschiedlich stark), operierte sie mit der universalen Setzung: "AIDS geht uns alle an!" Diese stets wiederholte Aussage, diese Universalisierung des Risikos und die Betonung der gesamtgesellschaftlichen Problematik, blieb die eigentliche Botschaft ihres Buches. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass es zentrales Ziel von Süssmuths Buch und mehr noch ihrer Politik war, Betroffenheit auszulösen und zwar im doppelten Sinn: einerseits indem von den Lesern Betroffenheit bzw. Empathie mit den Infizierten gefordert wurde, andererseits aber auch indem aufgezeigt bzw. behauptet wurde, dass jeder einzelne von Aids betroffen sei – ungeachtet seiner Herkunft, seiner sexuellen Präferenz, seines Geschlechts oder seines Alters. Aids sei ein gesellschaftliches Problem bei dem aber jeder einzelne dafür Verantwortung trage, sich zu schützen. In diesem Sinne lautete bereits der erste Satz der Einleitung: "AIDS ist eine bedrückende Krankheit, und sie geht uns alle an!"6 Zwar differenzierte Süssmuth nach unterschiedlichen Infektionsrisiken, die für unterschiedliche Gruppierungen, aber in erster Linie für unterschiedliche Praktiken gelten. Nichtsdestotrotz wurde sie nicht müde zu betonen, dass Aids kein Problem von einzelnen Personen oder Gruppen sei, sondern etwas, das die gesamte Gesellschaft beträfe. Die Konsequenz, die sie daraus zog, ist jedoch nicht etwa, dass der Staat die Aufgabe habe, den einzelnen Bürger vor einer Infektion zu schützen, sondern dass der Staat nur immer wieder an die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen appellieren müsse und könne. Aids sei ein individuelles Risiko. Damit vertrat sie das Konzept des verantwortlichen Handelns wie es etwa auch von ihrem CDU-Kollegen Ulf Fink proklamiert wurde. Fink galt als Berliner Senator für Gesundheit und Soziales (1981-1989) mit seiner "Berliner Linie" als Vorreiter einer Präventionspolitik, die schlussendlich zum Vorbild der Aids-Politik auf Bundesebene wurde. Diese Politik setzte "Vertrauen in die Selbsthilfepotenziale der Betroffenen, in den Selbstschutz der Bevölkerung und die Freiwilligkeit bei der Wahrnehmung angebotener Maßnahmen".7

Was jedoch fatal bleibt: Indem bei diesem Konzept davon ausgegangen wurde, dass man sich Aids "hole" (vgl. auch die Überschrift von Süssmuths achten Kapitels: "AIDS holt man sich") und Süssmuth immer wieder an die Eigenverantwortlichkeit des Bürgers appellierte, wurde suggeriert, dass die meisten direkt Betroffenen an ihrer Infektion selbst schuld seien.

Babys und Bluter konnten sich vor der Infektion nicht schützen. Aber in den meisten anderen Fällen ist AIDS weitestgehend vermeidbar. Bei keiner anderen Krankheit ist das Verhalten des einzelnen so entscheidend: AIDS bekommt man nicht, man holt es sich. AIDS ist noch nicht heilbar, aber vermeidbar. Ausschlaggebend ist das Sexualverhalten, aber darauf ist das Problem nicht beschränkt. 8

Indirekt wurde hiermit ein Schuldtopos eingeführt, der mit der Abwendung vom Modell bestimmter Risikogruppen bereits längst als überwunden galt: Wer sich infiziert habe, habe sich nicht ausreichend geschützt. Nun geht es aber nicht darum, jene Politik nachträglich dafür zu verurteilen, sondern vielmehr deren Effekte aufzuzeigen. Und dies ist der Punkt an dem die Geschichte von Aids unter der Perspektive der Emotionsgeschichte ihr kritisches Potential offenbart: Entgegen einer weit verbreiteten Einschätzung ist die Aids-Politik der späten 1980er Jahre alles andere als eine "sachliche Politik", die eine Absage an jegliche Emotionalisierung von Politik darstelle. Süssmuth suggerierte mit ihrem Konzept, dass Schutz möglich, und nur absolut abhängig vom Verhalten des Einzelnen sei. Damit ließ sie beispielsweise aber außer Acht, dass Menschen sich etwa auch schon vor dem Bekanntwerden von Aids und HIV infiziert haben konnten – also bevor ein bestimmtes Wissen über Infektionswege und Präventionsmaßnahmen überhaupt etabliert und verbreitet war. Ebenfalls außer Acht blieb, dass selbst bei dem von ihr vertretenen Model des individuellen Risikos immer ein unkalkulierbares Restrisiko vorhanden blieb. Damit argumentierte sie auch entgegen ihrer ansonsten vertretenen Haltung – dass nämlich die Schaffung einer absoluten Sicherheit eine Illusion sei.

Auch auf einer anderen Ebene lässt sich diese Emotionalisierung von Politik zeigen: Besonders Homosexuellen wurde in den 1980ern im Zusammenhang mit Aids und HIV immer wieder unterstellt per se promiskuitiver zu sein. Auch Süssmuth beschrieb Promiskuität, also den Geschlechtsverkehr mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Partnern, als größte Gefahr. Allerdings betonte sie, dass sich dies auf alle bezieht, "die ungeschützten Sexualverkehr mit wechselnden Partnern bzw. Partnerinnen haben, die promisk leben."(12) Statt jedoch konsequent zwischen Promiskuität und ungeschütztem Sexualverkehr zu differenzieren, setzte Süssmuth sie in ihrem Ratgeber gleich. Damit suggerierte sie, promiskes Verhalten sei grundsätzlich schuld an der Infektion und an der Verbreitung von Aids. Dabei betonte sie andernorts, dass Schutz mit Kondomen, also Safer Sex, durchaus möglich sei. Es sei die "Sexuelle Revolution" der 1960er und 1970er Jahre, die laut Süssmuth, trotz ihrer positiven Effekte auch zu einer "Scheinliberalität" und zu einem "Verlust an Gefühlstiefe" geführt habe. Damit reihte sie sich ein in einen kulturkritischen Diskurs über die Folgen der "Sexuellen Revolution": Aids sei eine Gelegenheit bzw. eine "Chance, neu nachzudenken über Beziehungen zwischen zwei Menschen, über gegenseitige Verantwortung und Liebe."9

Die Forderung, dass in Zeiten von Aids eine neue Emotionalisierung von Beziehungen notwendig sei, wurde von zahlreichen Zeitgenossen aufgegriffen. So betonte nicht nur Süssmuth den Nutzen von partnerschaftlicher Treue für die Prävention, sondern auch der ultrakonservative CSU-Politiker Norbert Geis forderte, im Zuge von Aids müssten Kinder erneut zur Treue erzogen werden.10 Ebenso ging auch Peter Gauweiler 1987 davon aus, dass Aids eine Folge der "Sexuellen Revolution" darstelle.11 Gauweiler betonte aber auch, dass Süssmuth die Gefahr von Aids verharmlose, denn Safer Sex sei alles andere als sicher: "Infizierten hätte gesagt werden müssen, daß sie auch bei der Benutzung von Kondomen die Tötung ihrer Partner riskieren."12 In diesen drastischen Worten wird gleichzeitig deutlich, wie die von Süssmuth vertretene Politik mit der Politik staatlicher Zwangsmaßnahmen kollidierte, die Ende der 1980er vor allem in Bayern vertreten und durch Peter Gauweiler repräsentiert wurde. Gauweiler veröffentlicht zwei Jahre nach Süssmuth sein "Gegenbuch": Was tun gegen AIDS? Wege aus der Gefahr (1989). Der Untertitel stellte offensichtlich eine direkte Adaption von Süssmuths Untertitel "Wege aus der Angst" dar. In ihrem Vorwort dazu forderten der Spiegel-Journalist Hans Halter und der Fernsehjournalist Dagobert Lindlau:

Prostituierte sind aufgrund der geltenden Gesetze zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten schon immer gezwungen worden, sich untersuchen zu lassen – wenn nötig, mit polizeilicher Gewalt. Bei AIDS war die erste Risikogruppe die der männlichen Homosexuellen. Sind, weil es sich um Männer handelt, notwendige Maßnahmen, die Frauen ertragen mußten, außer Kraft gesetzt worden? Das wirft sehr ernste Fragen der verfassungsmäßigen Gleichberechtigung auf. (11)

Ebenfalls im scheinbar sachlichen Ton wurden hier unter dem Deckmantel der politischen Gleichbehandlung restriktive Maßnahmen gefordert – und als rationale Vorgehensweise beschrieben. Die Reaktionen auf Süssmuths Buch fielen – auch parteiintern – sehr unterschiedlich aus. 13 Ulf Fink etwa lobte: "Sie hat ihre Linie gefunden." 14 Dagegen kritisierte Peter Gauweiler, man habe "[n]ach der Lektüre mehr Angst … als zuvor", 15 denn Süssmuths Buch basiere auf falschen Einschätzungen, etwa auf zu niedrigen Schätzungen über die Zahl der Infizierten und über die Beherrschbarkeit von Aids. Auch warf Gauweiler, wie interessanterweise etwa auch viele Selbsthilfegruppen, der Bundesregierung vor, sie habe erst sehr spät über Aids informiert und die Untersuchungspflicht für Blutkonserven sei zu spät eingeführt worden. Auch gegen die Aussage, dass eine Meldepflicht kontraproduktiv sei, wehrte sich Gauweiler und verweist auf die übliche Praxis in anderen Ländern.16 Tatsächlich war Aids bis zur zweiten Hälfte der 1980er Jahre auf bundespolitischer Ebene kaum ein Thema. Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit unter Heiner Geissler war noch Ende 1985 davon ausgegangen, dass Aids nicht als massive Gefahr betrachtet werden müsse. 1987 avancierte Aids jedoch zum Wahlkampfthema.17 Süssmuths Politik (und stellvertretend dafür auch ihr Buch, das 1987 erschien) stellte somit eine massive Kehrwende dar. Sie betonte die Bedeutung von Aids, um gleichzeitig für eine bestimmte Politik zu werben, die davon ausging, dass Angst und Repressionen kontraproduktiv für die Präventionsarbeit seien. Angst alleine führe bei Menschen, so Süssmuth, nicht zur Verhaltensänderung.18

Ihr Buch lässt sich nun als Versuch beschreiben, über das Medium des Ratgebers und der populären Vermittlung von "Expertenwissen" Gefühle zu formieren, damit zu verändern bzw. zu regulieren. Es ist von der Annahme getragen, dass über den Weg der Wissensvermittlung Urteilsbildungsprozesse und Emotionen verändert werden können. In diesem Sinne ging es nicht um eine Entpolitisierung, sondern ganz im Gegenteil um eine starke Politisierung von Emotionen. Ebenso ging es ihr aber auch um eine Emotionalisierung der Politik und hier vor allem der Aufklärungsarbeit. Ziel der Aufklärungsarbeit sei: "Sie muß Betroffenheit auslösen, Emotionalität und Sachlichkeit verknüpfen." (72) Erst darüber sei der "Abbau irrationaler Ängste und Überreaktionen in der Bevölkerung" (76)  möglich. Ziel sei auch die "Schaffung eines Gefühls, daß AIDS jeden angeht." (76) Interessant und zentral ist diese Aussage vor allem deswegen, weil sie als performativer Sprechakt das konstatiert, was sie "lediglich" zu benennen meint. Sie kreierte Betroffenheit bzw. das Gefühl, Aids ginge alle an. Doch längst scheint dieses Gefühl verblasst – sowohl in der Politik als auch im öffentlichen Bewusstsein.

Referenzen

1 Rita Süssmuth, AIDS. Wege aus der Angst (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1987), 7.

2 Süssmuth, AIDS, 11f.

3 Ibid. 72.

4 Vgl. auch Peter-Paul Bänziger, "Konstellationen und Koalitionen im Sprechen über Aids in den 1980er Jahren," in Diskursiver Wandel, Achim Landwehr, ed. (Göttingen: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2010), 31-51.

5 Süssmuth, AIDS, 9.

6 Raimund Geene, "Aids-Politik. Ein neues Krankheitsbild zwischen Medizin, Politik und Gesundheitsförderung", http://www.aids-politik.de (Zugriff 11. Januar 2010), 121.

7 Süssmuth, AIDS, 10.

8 Ibid. 12.

9 Ibid. 19.

10 Vgl. "Küssen und Kondome," Der Spiegel 4 (1988), 97-99.

11 Peter Gauweiler, Was tun gegen AIDS? Wege aus der Gefahr (Percha: R.S. Schulz, 1989), 24.

12 Gauweiler, Was tun gegen AIDS?, 29.

13 "Wia geht's, wia steht's, hoam S'Aids?", Der Spiegel 21 (1987), 17-19.

14 Ulf Fink, "Sie hat ihre Linie gefunden," Der Spiegel 21 (1987), 66-67.

15 Gauweiler, Was tun gegen AIDS?, 67.

16 Vgl. ibid.

17 Von daher ging der Gesundheitswissenschaftler Raimund Geene auch von einer Politisierung des Aids-Diskurses in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aus. Vgl. Geene, "Aids-Politik".

18 Vgl. Süssmuth, AIDS, 11f. So erklärt auch Bettina Hitzer die gute Forschungslage zu Angst damit, dass davon ausgegangen wird, Angst werde häufig als Handlungsanreiz verstanden. Vgl. Bettina Hitzer, "Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen", H-Soz-u-Kult,  23. November 2011, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001, 16.

19 Süssmuth, AIDS, 72, 76.

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