Der Busfahrer-Magen 1937

Verdauungsstörungen und die Gestaltung der modernen Politik

von Rhodri Hayward

Eine illustre Gruppe von Amateur-Anthropologen, Mitglieder der neugegründeten Britischen Forschungsorganisation Mass-Observation, schwärmte am 12. Mai 1937 in London aus, um die kollektiven Fantasien, die mit der Krönung George I. assoziiert wurden, zu erforschen. Mass-Observation war eine eigentümliche Organisation. Angesiedelt irgendwo zwischen einem Meinungsforschungsinstitut und einem surrealistischem Experiment, beabsichtigten seine Mitglieder, die geheimen Organisationsprinzipien hinter den von ihnen zusammengetragenen Einzelheiten des alltäglichen Lebens aufzudecken.

Am 12. Mai notierten die Beobachter neben anderem die spontanen Feiern der Massen, besondere Formen der  Gedenkfeiern und Versuche, Soldaten zu verführen, aber, wie ein Kommentator anmerkte, seltsamerweise erwähnte niemand den Bus-Streik.1 Dass dieser übersehen wurde, war enttäuschend. In vielerlei Hinsicht war die Abwesenheit von Omnibussen auf Londons Straßen genau das bedeutsame Vorkommnis, auf das Mass-Observation wartete. Der Streik markierte einen wichtigen Moment in der Geschichte der Gefühle und dem Aufkommen der englischen Moderne. Es war die Zeit, in der Gefühle – insbesondere Angst und Depression – als Referenzpunkte für politische Programme und bei Verhandlungen mit der Industrie hervortraten. Der Coronation Bus Strike von 1937 kündigte eine neue Art der Politik an. Obwohl es bereits eine lange Tradition gab, auf innere Zustände wie Hoffnung oder Klage bei der Äußerung politischer Forderungen zu rekurrieren, waren die Argumente, die im Zusammenhang mit dem Busstreik aufkamen, ein Novum. Die inneren Gefühle, die die Basis für politisches Handeln waren, wurden nicht einfach in demagogischen Ansprachen oder radikalen Pamphleten artikuliert, sondern wurden durch eine Kombination aus neuartigen statistischen Methoden und der psychosomatischen Medizin sichtbar gemacht. Beim Coronation Bus Strike wurde die Epidemiologie das Medium der politischen Auseinandersetzung.  

Der Busstreik war das Ergebnis einer konzertierten Aktion von Busman's Rank and File, der letzten großen syndikalen Arbeiterbewegung  unter Federführung der Gewerkschaft Transport and General Worker's Union (TGWU). Die Busfahrer kämpften für die Einführung des Sieben-Stunden-Tages und argumentierten, dass die Intensität der Arbeit zu einer Verschlechterung ihres allgemeinen Gesundheitszustandes führte. Die Forderungen basierten auf zwei unterschiedlichen Argumenten. Einerseits konnten die Busfahrer auf einen großen Korpus an Dokumenten wie Fahrplänen, Routenkarten, Verkehrsberichten und Dienstpläne zurückgreifen, die die Intensivierung der Arbeitsbelastung verdeutlichten. Andererseits konnten sie auch auf einschneidende Veränderungen ihres Innenlebens verweisen. Steigender Stress und Ängste, so argumentierten sie, habe zu einer neuen Art von Verdauungsstörungen – dem "Busfahrer-Magen" – geführt, die in den Krankenakten des Busunternehmens und durch Krankenversicherungsansprüche nachgewiesen werden konnte. Dieses neue Krankheitsbild, hervorgegangen aus einer Vermischung von psychosomatischen Theorien, neuen Mustern der Somatisierung und einer neuen Dokumentation bei den Versicherungen, stand 1937 im Zentrum der Diskussion.

Als eine Krankheit war der "Busfahrer-Magen" ein kurzlebiges Phänomen. Seine erste Erwähnung findet sich in den Krankenhaus- und Angestelltenakten in den frühen 1930er Jahren. In den 1960er Jahren war er aus der populären sowie medizinischen Literatur verschwunden. Er war eine Krankheit seiner Zeit. Busfahrer, die für Llewellyn Smith's New Survey of London interviewt wurden, führten dieses Leiden auf schnelle und unregelmäßige Mahlzeiten, die sitzende Tätigkeit des Fahrens, Kohlenmonoxid-Dämpfe und den unbarmherzigen Arbeitsdruck zurück.2 Diese  allgemeine Verbindung zwischen der Misere der Busfahrer und den Problemen der Moderne, basierte auf dem seit langem bestehenden Argument in der britischen Medizin, dass die emotionale Belastungen mit Ernährungsgesundheit verband.  Bereits in den Schriften von Ärzten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, zu denen Georg Cheyne und James Johnson gehörten, wurde eine schlechte Verdauung mit nationalen Epidemien von Hypochondrie verknüpft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Leiden der Verdauungsorgane häufig mit Nervenschwäche und Neurasthenie verbunden. Obwohl diese Verbindung schon seit langem bestand, wurde die Grundlage dieses Zusammenhangs auf zwei unterschiedliche Arten verstanden. In den Schriften des 19. Jahrhunderts war es die schlechte Verdauung, die Geist und Charakter zerbrechen ließ. Der Magen entwickele Tics und Empfindlichkeiten gegen schlechte Speisen oder Völlerei, was dazu führe, dass sich die Stimmung verschlechtere oder Nervenenergie entzogen würde.  

Im 20. Jahrhundert jedoch veränderten sich die Auffassungen von der Beziehung zwischen Geist und Magen. Verdauungsstörungen galten nicht mehr als der Grund für psychologische Probleme, sondern wurden nun als ihr Resultat verstanden. Stress untergrabe die Verdauung.

Die Verwandlung des Magens in ein Stress-Barometer beruhte auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Vorgehensweisen. Zunächst gab es eine Reihe praktischer Interventionen, die es ermöglichten, Form und Inhalt des Magens in verschiedenen Situationen zu messen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entstanden viele neue Techniken: der Gastrograph, Ryle's "Gastro-Untersuchungs-Rohr", die Röntgenstrahlung und die fraktionierte Magenanalyse – die, miteinander kombiniert, die geheimnisvollen Aktivitäten des Magens offenbarten und messbar machten. Diese neuen Techniken zeigten keinen direkten Zusammenhang zwischen den Aktivitäten des Magens und dem Verdauungsprozess. Experimente an Patienten mit offenen Fisteln und an Labortieren wie den Pavlow’schen Hunden zeigten, dass die Produktion von Pepsin und Magensäure nicht direkt mit der Ernährung und der Verdauung zusammenhingen. Obwohl in den meisten Fällen die Aussicht auf Futter und die damit verbundenen visuellen und geruchlichen Schlüsselreize Magenbewegungen und die Enzymproduktion auslösten, war bei verängstigten oder erschreckten Tieren dieser Prozess unterbrochen. Wie der Harvard Physiologe Walter Cannon bemerkte, trat keine Produktion von Magensäften auf, wenn verängstigten Laborkatzen Futter angeboten wurde, setzte aber schnell ein, wenn sie gestreichelt wurden. Die Disparität zwischen den Magenaktivitäten und der Situation, in der sich die Tiere befanden, wurde durch die Einführung einer weiteren Zeitordnung erklärt. Der Magen reagiere nicht einfach nur auf äußere Reize wie Futter oder drohenden Hunger, er probe eher primitive Antworten auf wahrgenommene Bedrohungen. Walter Alvarez, der Autor des Klassikers Nervous Indigestion (1930) merkte an, dass, "diese nervösen Störungen, die für uns heute keinen großen Nutzen haben, Überreste von unseren höhlenbewohnenden Vorfahren [seien], deren Leben jederzeit von der Stärke abhing, die von den inneren Organen abgezogen und in den Muskeln konzentriert wurde, um für Kampf oder Flucht bereit zu sein."3

Durch die Verbindung mit medizinischen Technologien umfasste der Magen verschiedene Zeitordnungen. Er vereinte die gegenwärtige, gelebte Zeit der Moderne mit der Urzeit der Evolution und ermöglichte so eine neue Form der Kritik.

1933 begannen Gewerkschaftsfunktionäre für eine staatliche Untersuchung zu kämpfen, die die Verbreitung von Verdauungsstörungen unter Busfahrern ermitteln sollte. Als Folge einer Reihe von Vereinbarungen mit Arbeitgebern, in denen die Angestellten zustimmten, mit erhöhter Geschwindigkeit (im Durchschnitt um ca. 17 km/h) zu fahren, beklagten sich Busfahrer unter unerträglicher Belastung zu leiden. Ein Jahr später stimmte der Medical Research Council (MRC) zu, eine entsprechende Untersuchung zu organisieren. Obwohl führende Epidemiologen des Landes daran zweifelten, dass es jemals möglich sei, eine Belastung messbar zu machen, wurde Austin Bradford Hill von der London School of Tropical Hygiene and Medicine  für die Leitung der Untersuchung ausgewählt.

Hill hatte bescheidene Ziele. Ausgehend von der Feststellung, dass die Anzahl der gemeldeten Krankheitsfälle durch eine Reihe Faktoren beeinflusst war, die vom Durchschnittsalter der Belegschaft bis zur Höhe des fälligen Krankengeldes reichten, begann er zunächst, die Anzahl der Gastritisfälle unter Busfahrern mit denen der Straßenbahnfahrern zu vergleichen – da beide Gruppen ein ähnliches Altersprofil, einen ähnlichen Arbeitgeber und ein ähnliches Versicherungssystem hatten. Durch ihre Arbeitsverteilung, die die Arbeiter in zwei vergleichbare Gruppen einteilte, stellten sie eine Art natürliches Experiment dar, das für eine vergleichende Analyse verwendet werden konnte. Hill’s Wahl wurde durch Repräsentanten der TGWU unterstützt, die behaupteten, dass allgemein bekannt sei, dass Straßenbahnfahrer in gewisser Weise vor den Problemen der Busfahrer geschützt seien.

Die ersten Zahlen von Hill, die aus den Meetings zwischen dem MRC und den Repräsentanten der TGWU nach außen drangen, legten nahe, dass gastritische Krankheitsfälle unter Busfahrern mittleren Alters etwas häufiger auftraten.

16,3 Prozent aller Krankheitstage von Busfahrern im Alter zwischen 40 und 49 wurden gastritischen Erkrankungen zugeschrieben, während bei Straßenbahnfahrern derselben Altersgruppe hierfür nur 13,5 Krankheitstage verzeichnet wurden. Obwohl die proportionale Differenz eher klein war und Hill ätiologische Spekulationen vermied, war die bloße Tatsache, dass er Gastritisfälle aus den Krankenakten abstrahierte und sie in eine einzige Kategorie zusammenfasste, um sie vergleichen zu können, Grund genug, den "Busfahrer-Magen" als eine Kategorie zu reifizieren. Magenschmerzen und Störungen, die bisher als Symptome in vielen verschiedenen Krankheiten – vom Magengeschwür bis zur Grippe – auftauchten, wurden nun zu einem Krankheitsbild, das mit einem bestimmten Beruf in Verbindung gebracht wurde.  Allein die Tatsache, dass der Busfahrer-Magen näher untersucht wurde, verlieh ihm ein gewisse Objektivität und Konsistenz, da das Vorkommen zwischen verschiedenen Altersgruppen und in verschiedenen Berufen gemessen wurde. Statistiken zauberten ein neues Krankheitsbild herbei.

Obgleich Bradford Hill seine sehr zweifelnde Haltung gegenüber den Ursachen der vermeintlichen Störung beibehielt, taten die Gewerkschaften, insbesondere Rank and File Movement alles, um die Krankheit mit den Bedingungen moderner Arbeit in Verbindung zu bringen. Am 2. Dezember 1936 veröffentlichte John Davies, Wissenschaftskorrespondent des News Chronicle, die Neuigkeiten über die "merkwürdige Krankheit von Londoner Busfahrern" und forderte die Öffentlichkeit dazu auf, mehr Mitgefühl mit den schlechtgelaunten Fahrkartenkontrolleuren zu haben, da die Belastung durch unregelmäßige Mahlzeiten und Toilettenpausen sie in eine Situation bringe, in der "von keinem Lebewesen erwartet werden kann, dass es die Magensäfte oder die Laune kontrollieren kann".4 Einen Monat später warnt die Sonntagszeitung Reynolds News, weibliche Leser davor, sich vom Glamour der Schlagfertigkeit junger Busfahrer und ihrer Uniformen verführen zu lassen. Ehefrauen von Busfahrern wie Mrs. Dust und Mrs. Cravitz of Walthamstow, so die Zeitung, wären Zeuginnen, wie das Busfahren ihre Männer zu Grunde gerichtet hatte.5

Drei Monate nach dem Bekanntwerden des Berichts von Hill wurden im Parlament Fragen gestellt und die epidemiologische Analyse fand sich verarbeitet in gewerkschaftlichen Pamphleten und in Protestliedern wieder. Im April 1937 veröffentlichte Rank and File Movement das Buch "London Busmen demand the right to live a little longer".

Mit Bezug auf Gesundheitsklassifizierungen aus dem Ersten Weltkrieg beklagten sich die Autoren, dass die unsäglichen Strapazen die Gesundheit und das Nervensystem der Busfahrer belaste und  aus A1 Männern C3 Schrott mache.  Ausgehend von Hill's Zahlen und den Akten, die von der London Omnibus Company (LGOC) Employees Friendly Society geführt wurden, argumentierten sie, dass nur 10 Prozent der Busfahrer das Rentenalter erreiche (343 von 3,785), ein Drittel mit durchschnittlich 46 Jahren wegen schlechter Gesundheit entlassen werde und 20 Prozent (877) im Dienst sterbe. Radikal Todesstatistiken mit Folkmusik verbindend, komponierten die Busfahrer zur Melodie von Clementine eine Klage, die auf Hill’s Zahlen beruht:

Londoner Busfahrer haltet zusammen
Es ist eurer Recht die Wahrheit zu sehen
Obwohl Busfahren aufregend sein kann
Können wir beweisen, dass es auch tötet
Nur 4 Männer von 100
Werden 65 Jahre alt
Was nutzt es, eine Rente zu haben
Wenn Du nicht mehr am Leben bis
t

Einen Monat später streikten 27,000 Londoner Busfahrer und Fahrkartenkontrolleure. Am 3. Mai 1937 ordnet die Regierung eine arbeitsgerichtliche Untersuchung an, in der die Forderungen beider Seiten angehört wurden. Psychologen und Epidemiologen einschließlich Millais Culpin und Bradford Hill wurden als sachverständige Zeugen geladen. Die Hinwendung zu wissenschaftlicher Beweisführung brachte jedoch keine Lösung. Stattdessen gab es immer weitere Forderungen nach detaillierteren Untersuchungen, die erst mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges endeten.

Doch obwohl die Untersuchungen keine Lösung brachten, zeigten sie, wie sich das Verständnis von Emotionen und Praktiken der Politik verändert hatten. Der Biologe und Marxist J.B.S. Haldane merkte 1939 in der kommunistischen Zeitung Daily Worker an: "Die üblichsten Gründe einer Gastritis – also eines entzündeten und gereizten Magens – sind Sorgen und Angst. Sie sind besonders unter Busfahrern und Handelsreisenden verbreitet. Ich litt 15 Jahre darunter, bis ich Lenin und andere Autoren las, die mir zeigten, was mit der Gesellschaft nicht in Ordnung war und wie sie geändert werden musste. Seitdem brauchte ich kein Magnesium mehr."6 Emotion, das machte der "Busfahrer-Magen" klar, war kein individuelles Problem. Sie hat ihre Wurzeln in den Problemen der Sozialordnung und der Möglichkeit sozialer Gerechtigkeit.

Im Kommunistischen Manifest stellten Marx und Engels fest, dass unter den Bedingungen der Moderne "[A]lle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen … aufgelöst [werden], alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."7 Dennoch zeigt der Kampf der Busfahrer, dass dies nicht ein geradliniger Prozess war. Durch die Kombination von psychosomatischer Theorie, Versicherungsunterlagen und statistischen Techniken wurde das, was flüchtig war – Momente innerer Ängste und Belastungen – in dauerhafte Objekte verwandelt, die im Gegenzug als die Grundsteine für eine bessere oder gerechtere Welt dienen könnten.

Referenzen

1 Humphrey Jennings and Charles Madge, eds., May the Twelfth: Mass Observation Day Surveys by over Two Hundred Observers, 1937 (London: Faber and Faber, 1987).

2 H. Llewellyn Smith et. al., The New Survey of London Life and Labou, vol. VII: London Industries III (London: P. S. King & Son, 1934), 87.

3 Walter Alvarez, Nervous Digestion (London: William Heinemann, 1930), 26. Orig. Zitat: “these nervous inhibitions, of little use to us today, are survivals from our cave dwelling forebears whose lives at any moment might depend on the strength that could be withdrawn from the inner organs and concentrated in muscles needed for fighting or running away.”

4 [John Langdon Davies]. "Strange Illness of Bus Conductors," News Chronicle (2 December 1936), 2.

5 "Busmen's Wives Tell: The Heavy Toll of a Driver’s Job," Reynolds News (2 May 1937), 5.

6 J. B. S. Haldane, "Pain-Killers," in idem, Science and Everyday Life [1939] (Harmondsworth: Pelican Books, 1941), 155. Orig. Zitat: "The commonest cause of gastritis – that is to say an inflamed and irritable stomach – is worry and anxiety. It is particularly common among busmen and travelling salesmen. I had it for fifteen years until I read Lenin and other writers, who showed me what was wrong with our society and how to cure it. Since then I have needed no magnesia."

7 Zitat aus Karl Marx und Friedrich Engels, "Manifest der Kommunistischen Partei", in ibid., Werke, Band 4 (Berlin: Dietz Verlag, 1972), 465.

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