Furcht, Angst und Schrecken im 17. Jahrhundert

von Andreas Bähr

1623, der Dreißigjährige Krieg dauerte bereits fünf Jahre, erhielt der Jesuitenpater und Universalgelehrte Athanasius Kircher den Auftrag, im Ordenskolleg des sächsischen Heiligenstadt griechische Sprache zu lehren. Auf dem Weg dorthin, wie er in seiner Autobiographie berichtet, stieß ihm ein bemerkenswerter "Unfall" zu. Obwohl Kircher eine von "ketzerischen" Protestanten bewohnte Gegend zu passieren hatte, schlug er die Aufforderung Wohlmeinender in den Wind, auf dieser Route seine Ordenszugehörigkeit zu verbergen; lieber wollte er "in geistlicher Kleidung sterben, als in weltlicher Kleidung sicher reisen."1 Was Außenstehende befürchteten und was Kircher bereitwillig in Kauf nahm, ließ im "unsicheren und grausigen" "Höllental" (zwischen Eisenach und Marksuhl) nicht lange auf sich warten. Kircher wurde von im Wald lagernden Reitern umzingelt, an seinem habitus als Jesuit erkannt, ausgeraubt, geschlagen und verletzt. Und in ihrem furor gingen die Peiniger noch weiter. Da diese "Häretiker", wie es Kircher schien, nicht allein von bloßer Habgier, sondern auch "von unversöhnlichem Hass gegen die Jesuiten" erfüllt waren, schickten sie sich an, ihr Opfer zu erhängen, und führten Kircher schon zu dem für Hinrichtungen vorgesehenen Baum.2

Als der so Bedrohte die Aussichtslosigkeit der Lage erkannte, empfahl er sich "unter Tränen mit glühendem Herzen Gott und der Gottesmutter".3 Kircher bereitete sich zum Martyrium: "Ich dankte der göttlichen Güte, dass sie mich würdig gemacht hatte, für die Ehre ihres heiligsten Namens zu sterben."4 Seine Tränen flossen "stromweise". Und sie hatten eine bemerkenswerte Wirkung. Was an Tränen ausströmte, strömte an Tröstungen ein, in einem Maße, wie Kircher es in seinem Leben nicht gekannt hatte:5 "Keine Furcht besetzte mich länger, und ich verspürte die größte Bereitschaft, für Gott mein Leben und mein Blut verströmen zu lassen."6 Diese tränenreiche Furchtlosigkeit nun, die Bereitschaft, sich "gefasst" (composito animo)7 in das Befürchtete zu finden, vermochte das Drohende abzuwenden: Durch die Tränen des Opfers wurde einer der umstehenden Soldaten derart von Mitleid "berührt" (commiseratione tactus), dass er an seine Begleiter appellierte, ihre Hände nicht mit dem Blut eines Unschuldigen zu beflecken. Hatten Jesuiten auch Böses getan, Kircher sollte dafür nicht büßen; das Kleid, an dem sie ihn zu erkennen glaubten, verschleierte bei genauem Hinsehen seine wahre Person. Wer diesen Unschuldigen ums Leben brachte, so der Redner, sah göttlicher Strafe entgegen. Die Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Die Reiter ließen von Kircher ab, wie er berichtet, und händigten die geraubten Sachen aus. Doch damit nicht genug: "Wie von panischem Schrecken befallen, zogen sie sich in das Innere des Waldes zurück und ließen mich mit meinen Kleidern und den Schriften, die sie mir genommen hatten, allein."8 Nur Kirchers Retter kehrte noch einmal zurück: um den Geretteten um Fürbitte anzusuchen, dass ihm die Schuld des Verbrechens nicht angerechnet werde, und um ihm dringlich zu raten, den Ort der Gefahr zu verlassen. Dieses Mal beherzigte der Reisende den Rat, Gott dem Allmächtigen dankbar für den Beweis seines Schutzes – wenn auch nicht ohne Bedauern, "der so ersehnten Gelegenheit, für seine Ehre zu sterben, benommen worden zu sein."9

Was geschieht hier? Athanasius Kircher erkennt, dass er aus eigener Kraft der lebensbedrohlichen Lage, in der er sich befindet, nicht entkommt. Diese Erkenntnis lässt ihn jedoch nicht verzweifeln und sie macht aus ihm kein wehrloses Opfer; vielmehr mündet sie in gottesfürchtiges Vertrauen. Kirchers anfängliche Furcht wandelt sich zu einer Furchtlosigkeit, die der Furcht ihren Anlass nimmt: die ihrerseits den Gegner in Furcht versetzt und in die Flucht schlägt. Das ist bemerkenswert. Denn der Angegriffene wird hier ja keineswegs zum Angreifer, er leistet keine Gegenwehr. Die Soldaten fürchten also nicht ihrerseits eine physische Gewalthandlung ihres mental erstarkten Opfers, sondern die Furchtlosigkeit des Märtyrers selbst. Sie ist Kirchers entscheidende Waffe. Bei einem der Soldaten evoziert sie Empathie und einen Gesinnungswandel: die Einsicht, dass Kircher besser ist, als er zunächst scheint, und die anderen versetzt sie in einen "panischen Schrecken", der nach den Affekttheoretikern der Zeit durch das Aussetzen von Reflexion gekennzeichnet war, eine primär körperliche Reaktion darstellte und in Kirchers Beschreibung nur auf eine göttliche Strafandrohung zurückgeführt werden kann. Und diese Drohung war mehr als eine Drohung. Die Furcht vor der Strafe wurde bereits hier und jetzt selbst zur Strafe, zu einer Sanktion, die das Sanktionswürdige verhinderte. Im furchtlosen Kircher fürchteten die Soldaten nicht Kircher selbst, sondern den Gott, der ihm Furchtlosigkeit schenkte und jene strafte, die Unschuldige in Furcht versetzten.10

Dies nun bedeutet: Es ist nicht Athanasius Kircher, der hier handelt und wirkt, sondern sein Gott. Die Angst, mit der er die Soldaten "überfiel",11 schlug sie ganz körperlich in die Flucht. Ähnliches beobachtete die Dominikanernonne Maria Anna Junius im Spätsommer 1634, als schwedische Truppen das Kloster Zum Heiligen Grab in der Nähe von Bamberg bedrängten; und Ähnliches beobachteten auch Augenzeugen im September 1683, als die Türken nach zweimonatiger Belagerung der Stadt Wien fluchtartig ihr Lager verließen. Schweden wie Osmanen, so stellen zeitgenössische Berichte voller Erstaunen fest, hatten eigentlich keinen unmittelbaren Anlass zur Flucht, ihre militärische Lage war in den fraglichen Momenten keineswegs unvorteilhaft. So konnten sich die Beobachter das Geschehen nur aus einer göttlichen Intervention erklären. Gott hatte die Gottlosen mit Furcht "geschlagen", mit der Furcht vor den Rechtgläubigen, und trieb sie auf diese Weise hinweg.12

Diese "Schläge" der Furcht sind nicht metaphorisch zu verstehen. Dies zeigt sich auch in jenen Fällen und Situationen, in denen das skizzierte Prinzip seine Umkehrung erfuhr. Wenn Furchtlosigkeit das Befürchtete vertrieb, davon waren zahlreiche Zeitgenossen überzeugt, dann zog Furcht es an. Besonders die Mediziner wussten davon. Wer sich zu sehr vor der Pest fürchtete, so meinten sie (und viele Laien auch), der würde ihr geradewegs zum Opfer fallen. In diesem Sinne vermochte Furcht sich selbst zu bewahrheiten. Und so beschrieb sie so mancher als furchterregender als das, was sie befürchtete: als gewaltsamer als die imaginierte Gewalt. Auch hier stand ein göttlicher Sanktionsmechanismus im Hintergrund, ein unmittelbarer Zusammenhang von menschlichem Tun und Ergehen. Wer Gott nicht vertraute, so der Kern des Gedankens, den strafte er mit dem, was er befürchtete – als Strafe für seine Furcht. Diese theologische Erklärung regierte die medizinische. Und so wussten auch die Ärzte (um die Sache noch einmal zu wenden): Wenn Furcht die befürchteten Krankheitserreger anzog, dann vermochte Furchtlosigkeit sie zu vertreiben.13

Wie war all dies denkbar? Es ist nicht zu verstehen, wenn wir davon ausgehen, dass die Begriffe "Furcht", "Angst" und "Schrecken" hier das meinten, was mit ihnen in aufklärerischen Kategorien seit dem späten 18. Jahrhundert in aller Regel angesprochen wird: ein psychisch-mentales Ereignis. Im Gegensatz zu ihren psychologischen Konzeptualisierungen wurde diesen Emotionen im 17. Jahrhundert vielfach eine spezifische körperliche Wirkungsmacht zugeschrieben, eine aus dem Handeln Gottes gespeiste Gewalt.14 Furcht und Angst wurden damit nicht als "Gefühle" gefasst, sondern als "Affekte" und "Passionen". Sie wurden noch nicht in abgeschlossenen und unzugänglichen "Tiefen" der Person lokalisiert, sondern in einem Raum, der den Menschen mit dem Göttlichen verband.15 Kirchers affectus wirkten nicht in oder zwischen intentional handelnden, fühlenden und kommunizierenden "Individuen", sondern in einem göttlich konstituierten Raum, der Mikro- und Makrokosmos gleichermaßen umschloss. Athanasius Kircher hatte im Höllental gar nicht versucht, sich zu retten, im Gegenteil, und eben deswegen wurde er gerettet – durch eine Furchtlosigkeit, die nicht auf körperliches Überleben zielte, sondern auf die Unsterblichkeit der Seele. Diese Furchtlosigkeit transzendierte die Körpergrenze der Person, und das heißt auch: Sie war nicht jenseits sprachlicher Artikulation angesiedelt, sondern stellte selbst eine Sprache dar, eine Sprache göttlicher Macht. Kirchers Tränen zeigen dies in besonderer Weise. Sie repräsentierten nicht die Furcht des Paters, sondern deren Überwindung; und sie "berührten" den einen Soldaten mit Mitleid und schlugen die anderen in die Flucht.

Kircher konnte seinen "Unfall" in dieser Weise erinnern, weil für ihn – wie für so viele andere seiner Zeitgenossen auch – Furchtlosigkeit keine therapeutische Aufgabe darstellte; sie war in seinen Augen kein Zustand individuellen Wohlbefindens, sondern eine religiös-moralische Anforderung und Norm. Ziel war hier somit nicht die Abwesenheit von Furcht, nicht ihre psychische "Bewältigung", sondern ihre rechte Ausprägung und Form, mit Augustinus und Thomas von Aquin gesprochen: eine kindlich-liebende Furcht vor Gott und keine knechtische, die Furcht vor der Sünde und nicht vor deren Bestrafung. Furcht und Furchtlosigkeit entschieden über das Verhältnis des Menschen zu Gott. Kircher berichtet nicht nur von seiner Furcht vor den Soldaten, sondern vor allem auch von deren Überwindung in vertrauensvoller Gottesfurcht. In der Erinnerung an seine (körperliche) Rettung im Höllental erbringt er den Beweis, dass auch seine Seele gerettet ist. Und er zeigt, dass mit der Überwindung der Furcht auch die Furcht selbst eine heilsgeschichtliche Notwendigkeit besaß. Bevor Voltaire es wagte, die Theodizee-Frage negativ zu beantworten, bestand in aller Regel noch kein Zweifel: Um den Menschen aus Angst befreien zu können, hatte Gott ihn zuerst in Furcht, Angst und Schrecken versetzt – Gott selbst, wohlgemerkt, und nicht der Glaube an ihn: Erst Religionsphilosophen und -psychologen der Moderne verlagerten den Ursprung von Gottesfurcht ins Innere, in den psychophysischen Organismus, der Person.

Wer herauszufinden versucht, was Menschen in der Frühen Neuzeit wirklich empfanden, wird dort am Ende nur das finden, was er selbst zu empfinden meint. Wer dagegen nach historischen Emotionskonzepten fragt, vermag auch die Entstehungsbedingungen und sprachlichen Grundlagen eigener Empfindungen zu reflektieren. Dies macht Emotionen für Geschichtsschreibung und Frühneuzeitforschung so interessant. Um beim hier gewählten Beispiel zu bleiben: Zu fragen ist nicht, ob sich Menschen in der Geschichte gefürchtet haben oder nicht (wie es in der Tradition Jean Delumeaus praktiziert worden ist);16 zu fragen ist nach historischen Bedeutungen von Furcht, Angst und Schrecken und den Funktionen ihrer Beschreibung. Die räumlichen Dimensionen dieser Affekte, ihre religiös grundierte semantische Ausdifferenzierung und die Formen ihrer autobiographischen Thematisierung werfen ein helles Licht auf die Unterschiede zwischen modernen und frühneuzeitlichen Auffassungen von Furcht und Angst. In ihnen erweist sich die Relevanz der Furcht für die Konstituierung und Erschütterung gesellschaftlicher, kultureller und personaler Ordnung.

Referenzen

1 Vita R.P. Athanasii Kircheri S.J. Romæ in Collegio Romano post obitum eius inventa, ibidemque, agente R.P. Conrado Holtgreve, cum facultate R.P. Provincialis Romani 7 Sept. anno 1682 primùm, deinde iterum anno 1683 descripta Neuhusij à J.K. S.J., Hochschul- und Landesbibliothek Fulda Hs. 8° B 103, o.P., im Folgenden zit. als Vita, nach meiner Übersetzung und Paginierung, hier Bl. 22v. Vgl. die einzig verfügbare deutsche Übertragung von Nikolaus Seng, Athanasius Kircher SJ: Selbstbiographie (Fulda: Fuldaer Actiendruckerei, 1901).

2 Kircher, Vita, Bl. 23r.

3 Ebd., Bl. 23r/v.

4 Ebd., Bl. 23v.

5 Ebd., Bl. 23v.

6 Ebd., Bl. 23v.

7 Ebd., Bl. 23r.

8 Ebd., Bl. 24r.

9 Ebd., Bl. 24v-25r.

10 Für Einzelheiten siehe Andreas Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013), insbes. Kap. 3.

11 Kircher, Vita, Bl. 24r.

12 Zu den Schweden bei Bamberg: Maria Anna Junius, "Verzeignuß", in Bamberg im Schweden-Kriege, Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg, Friedrich Karl Hümmer, ed., vol. 52 (1890), 1-168 and vol. 53 (1891), 169-230, hier 207. Zu den Türken vor Wien: Johann Peter von Vaelckeren, Wienn von Türcken belägert/ von Christen entsezt … (Linz, 1684), 92; Summarische Relation, Was sich in währender Belägerung der Stadt Wien in= und ausser deroselben zwischen dem Feind und Belägerten von Tag zu Tag zugetragen. … (Nürnberg, n. d.), 12; Eberhard Werner Happel, Der Ungarische Kriegs=Roman, Oder Außführliche Beschreibung/ Deß jüngsten Türcken=Kriegs … (Ulm, 1685), 812.

13 Für Einzelheiten siehe Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit, insbes. Kap. 4.3 und 4.4.

14 Vgl. dagegen Hartmut Böhme, "Vom phobos zur Angst. Zur Transformations- und Kulturgeschichte der Angst," in Pathos, Affekt, Emotion. Transformationen der Antike, Martin Harbsmeier and Sebastian Möckel, eds. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009), 154-84. In allzu moderner Interpretation geht Böhme davon aus, dass den Affekten selbst eine agency zugeschrieben wurde. Zudem beschränkt er diese affektuelle Handlungsmacht auf das vorklassische Griechenland.

15 Vgl. dazu Monique Scheer, "Topografien des Gefühls," in Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, UteFrevert et al. (Frankfurt a. M.: Campus, 2011), 41-64; Monique Scheer, "Empfundener Glaube. Die kulturelle Praxis religiöser Emotionen im deutschen Methodismus des 19. Jahrhunderts," Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009), 185-213, hier 209-11.

16 Jean Delumeau, La peur en Occident, XIVe-XVIIIe siècles. Une cité assiégée (Paris: Fayard 1978); ders., Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident, XIIIe-XVIIIe siècles (Paris: Fayard, 1983.

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