Ironisch fotografieren?

Humor, Parodie und sozialer Realismus in der Geschichte der Gefühle

von Thomas Lindner

Die abgebildete Fotografie wurde im Jahr 1924 von einem nicht namentlich bekannten Mann aufgenommen. Auf den ersten Blick offenbart sich dem Betrachtenden eine den Konventionen der Zeit entsprechende klassische Liebesszene. Die dargestellte Frau trägt einen langen Rock und eine konservativ anmutende Bluse. Sie blickt, angeschmiegt an ein Blumenbouquet, direkt in die Kamera. Der Mann, etwas steif sitzend in Anzug und Krawatte, hält bewundernd ihre Hand. Ein Paar, das scheinbar den gemeinsamen Hochzeitstag feiert und selbstbewusst die eigene Liebe zur Schau stellt - und damit auch gleichsam die eigene heterosexuelle Bürgerlichkeit. Die Fotografie erscheint so als typische Szene einer Zeit, die von Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit geprägt war.
 
Doch dieser erste Eindruck täuscht. Durch den Entstehungskontext wird klar, dass hinter der Fassade aus Tradition, Bürgerlichkeit und Konvention ein ironischer Zugriff auf eben jene Werte, sowie ein Prise Humor und eine ausgeprägte Lust am Rollenspiel stehen. Diese überlieferten Gefühlspraktiken machen das Foto zu einer vielversprechenden Quelle für die Geschichte der Gefühle. Im folgenden Artikel soll anhand der historischen Analyse der Fotografie und ihres Entstehungskontextes beispielhaft dargelegt werden, inwiefern gefühlsgeschichtliche Perspektiven für Historiker*innen produktiv genutzt werden können.
Die zwei abgebildeten Personen sind die amerikanischen Fotograf*innen Tina Modotti und Edward Weston. Die Kunst von Modotti und Weston steht geradezu exemplarisch für die Hoffnungen und Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts und beide gelten heute als ungemein prägende Künstler*innen der Moderne.1 Tina Modotti, geboren 1896, war als Kind mit ihrer Familie aus Italien in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wo sie sich in San Francisco als Model und Stummfilmschauspielerin betätigte. In Kalifornien lernte Modotti den zehn Jahre älteren Edward Weston kennen, der sich bereits einen Namen als Porträtfotograf gemacht hatte. Gemeinsam mit Westons Sohn Chandler wanderte das Paar - beide waren jeweils mit anderen Partner*innen verheiratet - 1923 nach Mexiko aus, wo Weston fotografieren und Modotti zur Fotografin ausbilden wollte. In Mexiko wurden Westons Fotoausstellungen begeistert aufgenommen und besprochen. Der Amerikaner entwickelte seinen Stil weiter, unter anderem durch den Einfluss des heute ebenfalls weltbekannten mexikanischen Fotografen Manuel Álvarez Bravo. Fortan konzentrierte sich Weston auf eine „straight photography,“ eine bewusst realistische, von ästhetischer Nüchternheit geprägte Art des Fotografierens wie sie gut in den Zeitgeist der 1920er Jahre passte. Modotti übernahm den nüchternen Fotografiestil ihres Mentors Weston und entwickelte ihn weiter. Sie betonte den Realitätsanspruch ihrer Fotografien und arbeitete somit auf eine fotografische Variation des sozialistischen Realismus hin. Modotti und Weston fotografierten Alltagsgegenstände wie Zuckerrohr, Marionetten, Maiskolben oder Schreibmaschinen sowie Alltagsszenen der mexikanischen Stadt- und Landbevölkerung in betont kühler Weise. Sie waren damit Teil der künstlerischen Avantgarde der 1920er Jahren und brachen mit hergebrachten ästhetischen Konventionen. Im Gegensatz zum eher unpolitischen Weston entwickelte sich Modotti zu einer zunehmend überzeugten Kommunistin. Für sie hatte der Bruch mit der bürgerlichen Fotografie eine dezidiert politische Komponente: ihre Fotografie sollte die überkommene Bildsprache der bürgerlich-ausschmückenden Fotografie mit all ihren Dekorationen demaskieren. Die Kamera wurde zum Instrument, das Ideen vermitteln sollte.2

In diesem Kontext ist auch die Ausgangsquelle zu interpretieren. Zwei avantgardistische Fotograf*innen aus den Vereinigten Staaten treffen auf die traditionelle Ästhetik des konservativen städtischen Bürgertums in Mexiko. Die Ironie, mit der das abgebildete Paar dem vermeintlich überkommenen ästhetischen Horizont der bürgerlichen Inszenierung - die Papierblumen, der offensichtlich gemalte Waldhintergrund, das unechte Mäuerchen- begegneten ist allerdings subtil und wird nur durch weitere Quellenfunde deutlich. Edward Weston führte Tagebuch und hielt für den vierten August 1924 die gesamte Szene der Entstehung der Fotografie fest. Laut Weston waren er und seine Geliebte in den Straßen der mexikanischen Metropole unterwegs, als sie einen "Jux" erleben wollten und eine Idee umsetzten, mit der sie bereits liebäugelten, seitdem Weston die "umwerfend komischen Porträtfotos" in den Auslagen der "billigen Fotografen" erspäht hatte.3 Ausgiebig erzählt Weston den Besuch im Fotostudio nach, inklusive einiger ironischer Kommentare zur Licht- und Szenenwahl des mexikanischen Atelierbesitzers. Durch diese Darstellung offenbart Weston seine Überheblichkeit und Arroganz gegenüber dem mexikanischen Kollegen, etwa wenn er "das romantische Temperament des Mexikaners" beschreibt, welches diesen zu immer übertriebeneren Hintergrundbildern veranlasste.4 Die Beschreibung der Prozedur im Fotostudio schließt Weston mit den Worten seiner Partnerin Modotti, die draußen auf der Straße ausrief "Ich dachte ich platze vor Lachen! Wie konnten wir nur so ernst bleiben?"5 

Ob wir nun den Streich als gelungene oder als alberne Aktion der zwei "gringos" ansehen, so bleibt uns doch zuallererst das überlieferte Ergebnis der Aktion erhalten: die Fotos, die entstanden sind.6 Und beim Betrachten der überlieferten Bilder stellt sich die Frage: können wir Emotionen aus ihnen herauslesen? Und inwiefern liefert uns die Geschichte der Gefühle Ansatzpunkte für ein tieferes Verständnis der Anekdote und ihres Kontextes?

Zunächst einmal fällt auf, dass sich ein Großteil der emotionalen Ausstrahlungskraft der Fotografie aus dem Bildgenre an sich ergibt. Als ein Paarporträt weckt das Bild verschiedene Erwartungen und evoziert Emotionen, die sich aus der Geschichte dieses speziellen Genres ergeben. Doppelporträts eines Liebespaares folgten zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts recht engen Genrekonvention, die sich aus der europäischen Malereitradition ergeben hatten und die mit dem Aufkommen der Fotostudios demokratisiert und popularisiert wurden.7 Wie zuvor bei der königlichen Porträtmalerei wurden insbesondere zusätzliche Objekte mit großer symbolischer Bedeutung aufgeladen: während das königliche Zepter etwa für große Macht gestanden hatte, symbolisierte der Blumenstrauß nun große Liebe. Auch der Hintergrund im Fotostudio war von großer Bedeutung und bestand zumeist aus einer (angedeuteten) Naturlandschaft, etwa einem weiten Feld oder einer sonnendurchfluteten Waldlichtung, und sollte die Natürlichkeit der Liebe unterstreichen. Das Foto von Modotti und Weston folgt dabei penibel den Vorgaben des Genres der Liebespaarporträts: die Frau reicht dem Mann die Hand, die dieser liebevoll und gut sichtbar hält.8 Während Modotti selbstbewusst in die Kamera schaut, ruht Westons Blick stolz auf seiner Geliebten. Beiden Personen scheint eine Aura der Ernsthaftigkeit innezuwohnen, die verstärkt wird durch die recht steifen Körperhaltungen.9  Die (in diesem Falle ironische) Ernsthaftigkeit unterstreicht den Anspruch des Paares, ihre bürgerliche, heterosexuelle, und urkundlich beglaubigte Beziehung aus- und darzustellen: die inszenierte Bürgerlichkeit funktioniert, weil sie an bekannte und erlernte Emotionen und Sehgewohnheiten anknüpfen kann.

Der Historiker Peter Burke hat ausführlich dargelegt, welchen Zweck das fotografische Porträt erfüllen sollte: "Indem sie die Unterschiede zwischen sozialen Klassen verschleierten, boten die Fotografen ihren Kunden etwas an, dass als 'temporäre Immunität von der Realität' bezeichnet wurde."10  Burke spricht damit ein Wesensmerkmal der fotografischen Porträts an: sie sollen ihren eigenen Performancecharakter verschleiern und so eine eigene soziale Realität schaffen.11 Diese Erkenntnis mag zunächst banal klingen – kein Gruppenbild eines professionellen Fotografen ist ja wirklich ein spontaner "Schnappschuss" – doch sie wird durch Modotti und Weston zusätzlich als Farce demaskiert. Die zwei Künstler*innen machen sich weniger über den Fotografen lustig, als über das Genre der Porträtfotografie und dessen inhärenten Anspruch, eine schönere, harmonischere, lieblichere Variante der Realität darzustellen. Für Modotti und Weston galt ein knallharter sozialer Realismus als anzustrebendes Ideal im Gegensatz zur sozialen Illusion der bürgerlichen Fotografien und den damit einhergehenden Emotionen. Wie andere avantgardistische Fotograf*innen der 1920er Jahre strebten sie eine neue Grammatik des Sehens an, welche sich aus der technisch perfekten Beherrschung der Kamera ergab. Es ist nicht das Porträtieren, das aus Sicht von Modotti und Weston lächerlich ist, sondern das (nach ihrer Meinung überkommene) Festhalten an Traditionen der Malerei.12 Gerade Modottis eigene Fotos spiegelten diesen Anspruch wider: trotz einiger Ästhetisierung zeigten sie immer auch die harte Realität der Armut und unterstrich das Potential der Fotografie, Missstände erst sichtbar zu machen.

Für Gefühlhistoriker*innen bieten Konzepte aus der Kulturwissenschaft sowie aus der postkolonialen Theorie einiges an Erklärungskraft, auch wenn deren Übertragung auf einen nicht-kolonialen Kontext nur mit äußerster Vorsicht erfolgen sollte. Für das Foto von Modotti und Weston bietet sich die Verwendung des Konzepts der Mimikry an. Für den postkolonialen Theoretiker Homi Bhaba, der sich wiederum auf Jacques Lacan und Frantz Fanon bezieht, ist Mimikry gefährlich für die bestehende (koloniale) Ordnung, weil sie die Verletzlichkeit kolonialer Diskurse aufzeigt und sie so immer potentiell durchbricht.13 Für Bhaba bezeichnet Mimikry verschiedene Verhaltensweisen der zur Schau gestellten Unterwerfung und Autoritätshörigkeit, bei denen nicht mehr unterschieden werden kann, ob es sich um Ernst oder Übertreibung handelt. Auch bei Modotti und Weston entsteht solch ein Moment der Irritation: meinen sie ihr Anliegen nun ernst oder persiflieren sie das Genre? Allein diese Irritation reicht aus, um tradierte Regeln und Sehgewohnheiten zu hinterfragen und damit zu zeigen, dass die bürgerliche Kunst und letztendlich sogar die bürgerliche Gesellschaft, veränderbar sind. Allerdings müssen wir auch fragen: inwiefern kann eine Persiflage gelingen, wenn sie nicht von den Machtlosen (also den Subalternen) ausgeht, sondern von erfolgreichen und in ihrer Sexualität keineswegs unterdrückten Personen? Und repräsentiert der mexikanische Fotograf in diesem Fall wirklich eine konservativ-bürgerliche Ordnung, gegen die im Namen des sozialen Realismus aufbegehrt wird?14  

Neben dieser politisch-herausfordernden Dimension der Ironie existiert zweifellos auch eine humoristische Ebene. Das Foto ist zunächst einmal ein Scherz. Ein Konsens darüber, was Humor ist oder wie sich Konzepte wie Witz, joke, gag, mop, blague, broma voneinander unterscheiden, existiert, zumindest in den Geschichtswissenschaften, nicht. Einigkeit herrscht unter Gefühlshistoriker*innen nur darüber, dass es eben keine Ontologie des Humors gibt - dass Humor also nicht transkulturell und ahistorisch sein kann.15 Humor ist vielmehr auf einen konkreten Kontext angewiesen, um seine Wirkung zu entfalten und erfordert dazu Kontextwissen und ein gewisses historisches Verständnis: nur wegen der genauen Kenntnisse der bürgerlichen Fotografietradition kann deren Parodie überhaupt gelingen. Für Zeitgenoss*innen von Tina Modotti und Edward Weston war der humoristische Kern der Fotos unmittelbar erkennbar. Ella Wolfe, eine kommunistische Amerikanerin die für die sowjetische Botschaft in Mexico City arbeitete, bekam ein Exemplar eines der ironischen Hochzeitstagsfotos geschenkt. Auf der Rückseite des Fotos notierte Ella Wolfe, dass Modotti und Weston "sich über die traditionelle Fotografie lustig machen."16  Für die künstlerische und politische Bohème im postrevolutionären Mexiko der 1920er Jahre war der Kontext eindeutig: ein unkonventionelles Paar macht sich über die Traditionen der Ehe, der Fotografie und der bürgerlichen Gesellschaft subtil lustig und ironisiert sich dabei selbst. Die Fallhöhe besteht dabei in der Offensichtlichkeit des Witzes, der jedoch für Außenstehende nicht sofort zu erkennen ist.

Für die Geschichte der Gefühle bieten fotografische Quellen weiterhin viele Möglichkeiten, bereits bestehende Konzepte anzuwenden und weiterzuentwickeln. Dasselbe gilt für die Rolle von Humor und Ironie in der history of emotions.17  Zugegeben: über einen Witz zu forschen kann sich anfühlen, wie einen Witz zu erklären. Es dauert zu lange und am Ende lacht niemand. Und dennoch bietet gerade die Geschichte der Gefühle genau die Mittel, um auf kontextspezifische Weise dem Humor, der Ironie und der Persiflage auf die Schliche zu kommen.

Referenzen

1 Sicherlich auch deswegen wurde ein Foto Westons aus dem Jahr 1925 im Jahre 2008 für über 1,6 Millionen Dollar verkauft und damit zu einem der teuersten Werke der Fotografiegeschichte überhaupt. “Edward Weston’s Nude Sells for $1.6 Million at Sotheby’s Setting a New Record For the Artist", artdaily, (12.04.2020).

2 Siehe hierzu Christina Lodder. “Revolutionary Photography,” in Object: Photo. Modern Photographs: The Thomas Walther Collection 1909–1949, Mitra Abbaspour, Lee Ann Daffner, und Maria Morris Hambourg, Hrsg. (New York: The Museum of Modern Art, 2014), 1-12.

3 Nancy Newhall, ed., The Daybooks of Edward Weston, Volume I Mexico (Rochester: George Eastman House, 1961), 87.

4 Ebd.

5 Ebd., 88.

6 Es entstand eine ganze Fotografieserie. Für diesen Artikel beschränke ich mich auf das abgebildete Foto.

7 Peter Burke, Eyewitnessing. The Uses of Images as Historical Evidence (Cornell: Cornell University Press, 2001), 28.

8 Vergleiche als passendes Beispiel das Bild zum Artikel von Christa Hämmerle auf diesem Blog.

9 Für eine stärkere Einbeziehung der Körpergeschichte in die Emotionengeschichte argumentieren beispielsweise Monique Scheer und Pascal Eitler, siehe Pascal Eitler und Monique Scheer, “Emotionengeschichte als Körpergeschichte. Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert,” Geschichte und Gesellschaft 35, 282-313.

10 Vgl. Burke, Eyewittnessing, 28.

11 Ebd.

12 Nicht ohne Grund hießen die Avantgarde-Fotografiebewegungen Neues Sehen und New Vision: es galt, einen neuen Blick zu schaffen, der das Foto von der Malerei entkoppelte Der klassische Text hierzu ist Lázsló Moholy-Nagy, Malerei, Fotografie, Film (München: Albert Langen, 1925).

13 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (London: Routledge, 1994), 88 und, grundlegender, Frantz Fanon, Black Skin, White Masks (New York: Grove, 1994).

14 Diese Fragen betreffen auch immer das Machtverhältnis zwischen US-Amerikaner*innen und Mexikaner*innen, die nicht ohne Rückgriff auf die zentrale Rolle des lateinamerikanischen Anti-Imperialismus beantwortet werden können. Siehe dazu zur Einführung etwa Nicola Miller, Reinventing Modernity in Latin America: Intellectuals Imagine the Future, 1900–1930 (New York: Palgrave Macmillan, 2008) und Alexandra Pita González und Carlos Marichal Salinas, eds, Pensar el Antiimperialismo: Ensayos de Historia Intelectual Latinoamericana, 1900–1930 (Mexico City: Colegio de México, 2012).

15 Jan Bremmer and Herman Roodenburg, "Introduction: Humour and History,“ in A Cultural History of Humour: From Antiquity to the Present Day, Jan Bremmer and Herman Roodenburg, eds (Cambridge: Polity Press, 1997), 3.

16 Bertram Wolfe Papers, Box 174, Hoover Institution Archives.

17 Für einen Forschungsüberblick siehe Martina Kessel, "Introduction. Landscapes of Humour: The History and Politics of the Comical in the Twentieth Century“ in The Politics of Humour. Laughter, Inclusion, and Exclusion in the Twentieth Century, Martina Kessel and Patrick Merziger, eds (Toronto: University of Toronto Press, 2012), 3-21.

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