Tränen im Vorabdruck

Das "Tagebuch eines Vaters" in einer deutschen Familienillustrierten der 1870er Jahre

von Nina Verheyen

Die historische Emotionsforschung ist nicht auf eine bestimmte Quellengruppe festgelegt: Sie kann mit Ratgeberliteratur ebenso arbeiten wie beispielsweise mit  Zeitschriftenartikeln, Tagebüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen oder vielem mehr. Dabei muss, zwischen diesen Textsorten und "Genres" einerseits unterschieden werden. Schließlich verfügen sie jeweils über eigene Genreregeln. Dementsprechend macht es einen Unterschied, ob die Liebe einer Mutter für ihre Kinder von einem Pädagogen in einem Ratgeber eingefordert, von einem Journalisten in einer Familienillustrierten in Szene gesetzt, von einer bürgerlichen Frau selber per Tagebuch introspektiv ausgeleuchtet oder durch einen Psychologen in einem Fachartikel untersucht wurde. Andererseits aber verläuft die Grenze zwischen diesen Genres nicht immer eindeutig, und verschiedene Genres können sich in einer Quelle auch überlagern. Diese formale Hybridität sollte bei der Analyse dann nicht ausgeblendet, sondern systematisch in sie einbezogen werden. Hierdurch, so soll der folgende Artikel anhand einer Quelle aus der Zeitschrift "Die Gartenlaube" zeigen, eröffnen sich neue Perspektiven der historischen (Emotions-)Forschung.

Die Familienillustrierte "Die Gartenlaube", eine seit den 1850er-Jahren in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift, wurde in bürgerlichen Kreisen intensiv rezipiert und warb zugleich für deren Wertekanon. Bei der hier ausgewählten Quelle handelt sich um einen dort 1875 gedruckten kommentierten Vorabdruck aus dem Buch "Das Kind. Tagebuch eines Vaters", das ein Jahr später in Leipzig publiziert wurde.1 Autor dieses Buches war der Schriftsteller und Lehrer Herman Semmig (1820-1897), dessen Namen die "Gartenlaube" allerdings nicht angab. Der kommentierte Vorabdruck kam ebenfalls ohne Nennung eines Autors aus, wobei eine am Ende des Titels gesetzte Fußnote auf die zugrunde liegende Publikation verwies: Ein nach eigenen Angaben leicht gekürztes Tagebuch, das Semmig nach der Geburt seines Kindes angefertigt hatte, wobei er mit seinen Aufzeichnungen sowohl zum wissenschaftlichen Verständnis der frühkindlichen Entwicklung beitragen als auch Eltern schulen wollte. Sein Manuskript lässt sich damit an der Schnittstelle von Tagebuch, wissenschaftlicher Abhandlung und Rategeberliteratur verorten, weshalb sich im kommentierten Vorabdruck diese drei Textsorten ebenfalls kreuzten. Zugleich handelte es sich um einen eigenständigen Zeitungsbeitrag. Denn das "Tagebuch eines Vaters" wurde nicht nur in Auszügen abgedruckt, sondern auch einleitend kommentiert.

In formaler Hinsicht ist die Quelle damit äußerst hybrid, inhaltlich dagegen sticht die Kontinuität eines bestimmten Themas ins Auge: die Gefühle. Sie zogen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Zeitungsbeitrag. So wurde bereits in dem einleitenden Kommentar das Erscheinen des Buches unter Hinweis auf ein angebliches gesellschaftliches Defizit angepriesen. Die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes, so war zu lesen, sei ein Wunder, aber Eltern widmeten dem "erwachenden Leben des Kindes" oft nicht die genügende Aufmerksamkeit,  und "viele Tausende" gingen sogar "kalt und teilnahmslos an der ganzen Kinderwelt vorüber!"2  Die Gartenlaube rügte also das mangelnde Interesse an der Entwicklung von Kindern, konstatierte eine damit verknüpfte emotionale Verarmung und pries das "Tagebuch eines Vaters" als ein Gegenmittel an.

Im Anschluss folgte der Abdruck ausgewählter Auszüge aus dem Buch selbst, zunächst aus dem Vorwort. Dort erläuterte der Autor seinen nach der Geburt ad hoc gefällten Entschluss, über die Entwicklungsschritte des Säuglings ein Tagebuch zu verfassen, sowie die erst später gefasste Entscheidung, dieses in gekürzter Form zu veröffentlichen. Er hoffe, dass das Tagebuch "auch auf Andere anregend einwirken könne".3 Denn zum einen seien "die darin enthaltenen Erlebnisse und Empfindungen so allgemein menschlicher Art [...], daß sie ein jeder Andere erlebt und empfunden haben könnte", wenngleich sich nicht jeder diese Gefühle bewusst mache. Zum anderen sei die Entwicklung des geschilderten Kindes "eine natürlich regelmäßige" gewesen. Die Leserschaft werde daher nicht durch etwas "zu Persönliches" irritiert, und könne trotzdem "die ganze Stufenleiter der Gefühle durchlaufen und in dem engen Rahmen der Häuslichkeit ein Abbild von dem Streben und Ringen der Welt wiederfinden."4 Semmig begriff das Tagebuch also einerseits als Studie zur Entwicklung der geistigen und körperlichen – sowie implizit der emotionalen – Entwicklung eines Kindes, und er hoffte andererseits, die Leser durch die Lektüre in ganzer Breite an der "Stufenleiter der Gefühle" teilhaben zu lassen, die er offenbar mit der Entwicklung eines Kindes verband.

Wen er sich als Leser wünschte, wurde aus der ausführlichen Dedikation deutlich, die sich ebenfalls im Vorwort fand. Semmig widmete sein Buch "allen Denkern", die er für Kinder zu interessieren hoffte, den Müttern, welchen die eigentliche Kinderpflege obliege, deren Gatten, aber auch kinderlosen Frauen, die er auf ihre Bestimmung vorbereiten wollte, sowie – schließlich und persönlich – seiner eigenen Ehefrau. Im "Pfande" ihrer Liebe habe diese ihm "das höchste, süßeste Glück" geschenkt, "das der Mensch auf Erden empfinden kann, das allein uns erfüllt wie die Ahnung reiner himmlischer Seligkeit, das Glück, ein Kind mein zu nennen."5 Auffällig an dieser Darstellung ist eine Hierarchisierung von Ehe- und Elternglück: Die Liebe zwischen Ehemann und Ehefrau erschien als intrinsischer Wert, aber auch als Mittel zum Zweck, ein noch größeres Glück und ein noch "höheres" Gefühl zu erreichen: ein eigenes Kind zu haben. Die teleologische Vorstellung einer "Stufenleiter der Gefühle", welche das Kind durchlaufe, paarte sich mit dem religiösen Gedanken, qua Gefühl das Irdische zu überschreiten und gleichsam eine "Ahnung himmlischer Seligkeit" zu erfahren.  Das Fühlen und genauer: das elterliche Fühlen wurden sakralisiert.

Es verwundert angesichts dieser religiösen Überhöhung elterlicher Gefühle nicht, dass diese auch in den "acht Tagebuchblättern", welche die Gartenlaube im Anschluss an die Auszüge aus dem Vorwort veröffentlichte, omnipräsent waren.6 Jeweils mit Gedankenstrich einsetzend, wurden in wenigen Sätzen Eindrücke von der Entwicklung des Kindes skizziert wie auch die Eltern-Kind-Beziehung geschildert. Die Aufmerksamkeit von Semmig galt diesbezüglich vor allem der Mutter, etwa der "Mutterbrust", der "Muttermilch" und der "Mutterliebe". Darüber hinaus thematisierte er aber auch seine eigenen Gefühle sowie die emotionale Entwicklung des Kindes. Über die zweite Lebenswoche des Kindes hieß es zum Beispiel:

"Der kleine Körper ist wahrhaftig schon gewachsen. Und sein Geist? Noch scheint es nichts zu bemerken. Und doch ist es von Zeit zu Zeit, als habe es wahrgenommen, beobachtet. Und jetzt, ganz gewiß – es verzog den Mund so lieblich, so angenehm; ja, es hat gelächelt. Es war nur ein leiser Schimmer, ein Hauch, aber gewiß, es war ein Lächeln. Und jetzt schreit es wieder – man läßt das Arme lange, unbarmherzig lange warten, ehe man es befriedigt, und während man es befriedigt, währt es ihm noch zu lange; es schreit zum Erbarmen. Und siehe, was perlt da in dem Winkel seiner Aeugelein (sic!)? Nein, es ist nichts Anderes, ja wohl, es ist eine Thräne. Sie ist klein, winzig klein, kaum so groß wie eine Stecknadelkuppe, aber ich habe das bittere Salz gekostet – ich habe seine erste Thränke geschlürft. / Erstes Lächeln! Erste Thräne! Welcher Strom von Gefühlen wird aus diesen Quellen fließen?"7

Weinte der Säugling tatsächlich aus Ärger über die vorenthaltene Milch und "trank" der Vater ihm wirklich die erste Träne vom Gesicht? Diese Fragen lassen sich erstens nicht beantworten und sie sind zweitens falsch gestellt. Denn sie verweisen auf eine deskriptive, quasi-dokumentarische Lesart der Quelle, die als Zeuge von Gefühlen befragt und gleichzeitig angezweifelt wird. Damit orientiert sich die Analyse an der regulativen Idee eines Tagebuchs als authentischem Zeugnis individueller Gefühle und stellt gleichzeitig die Möglichkeit der Verfälschung in Rechnung: Semmig könnte beschönigt, dramatisiert, etwas erfunden oder sich einfach geirrt haben. Dieser Verdacht mag zwar plausibel erscheinen. Schon dem europäischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts galt ein Tagebuch als Ort einer dem normativen Anspruch nach authentischen Beschreibung individueller Gefühle, wobei dem schreibenden Subjekt nie ganz zu vertrauen war. Die Geschichtswissenschaft sollte diese Deutung von Tagebüchern als Spiegel und Zerrspiegel der Gefühle aber nicht einfach übernehmen und fortschreiben, sondern diese Perspektive vielmehr hinterfragen und selber historisieren.

Denn wie aktuelle Debatten in diversen Wissenschaften zeigen, sind Gefühle keine feste, anthropologische Substanz, die im Inneren des Individuums liegt und auf dieser Grundlage in einem zweiten, kulturell geprägten Schritt, mehr oder weniger "authentisch", nach außen ausgedrückt und dann beschrieben werden können. Vielmehr sind Gefühle von kognitiven Operationen kaum zu trennen, sie sind zudem beständig im Fluss. Sie kristallisieren sich in Gefühlsausdrücken sowie gezielten Reflexionen über Gefühle ebenso wie sie sich durch diese verändern oder sogar erst entstehen.8 Wenn Semmig in seinem Tagebuch über seine Gefühle schrieb, dann bildete er diese also nicht bloß ab, sondern er adressierte sie auch, machte sie sich gleichsam bewusst und modifizierte sie auf diese Weise – allerdings mit ungewissem Ausgang. Zwar könnte es sein, dass Semmig seine Liebe für den Säugling durch das Verfassen seines Tagebuchs gewissermaßen intensivierte. Aber Gefühle sind, wie der amerikanische Historiker William Reddy gegen konstruktivistische Perspektiven in der historischen Emotionsforschung betont, nicht vollkommen plastisch und sie lassen sich durch die Arbeit am Gefühl auch nicht einfach performativ herstellen.9

Anstatt die Quelle daher als Abbildung von Gefühlen zu lesen beziehungsweise in Frage zu stellen, sollte sie als eine kommunikative, das heißt an Andere gerichtete, Reflexion über Gefühle verstanden werden. Ein reflexiv-kommunikatives Moment war Tagebüchern als Textsorte stets inhärent. Denn diese dienten erstens der Betrachtung des eigenen Tuns, und es war zweitens im 19. Jahrhundert durchaus üblich, Tagebücher anderen Personen zu lesen zu geben – etwa den Eltern, dem Ehemann oder Freunden, später den Kindern. Indem Semmig sein Tagebuch als eine Mischung intimer Introspektion, wissenschaftlicher Analyse und pädagogischem Ratgeber anlegte und es publizierte, trieb er die Öffnung des potentiellen Publikums bloß einen Schritt weiter, nämlich über die ihm persönlich bekannten Personen hinaus. Neben diese kommunikativ-reflexive Dimension trat außerdem ein normatives Moment, was der Kommentar der "Gartenlaube" noch unterstrich. Denn ebenso wie Semmig zielte auch der Zeitungsbeitrag auf eine Aufwertung der Gefühle und zwar in doppelter Hinsicht: Erstens warb der Text für eine wissenschaftliche Analyse kindlicher Gefühle, die sich parallel auch intensivierte.10 Zweitens – und das ist in geschlechterhistorischer Perspektive besonders relevant – plädierte der Beitrag für eine stärkere Wertschätzung elterlicher Liebe speziell durch Männer.

Die Quelle griff damit in die zeitgenössische Debatte um naturalisierte "Geschlechtscharaktere" ein, welche die Familie als eine von der Öffentlichkeit getrennte Sphäre des Gefühls ausdeuteten und "der Frau" als wesensgemäß zuordneten. Das "Tagebuch eines Vaters" hob diese Polarisierung nicht auf, sondern überlagerte sie durch die Prinzipien von Partikularität und Universalität: Der Autor beschrieb sich als einen bürgerlichen Mann, der seine Erfüllung sowohl im Beruf als auch in der Familie suchte, der sowohl über einen klaren Verstand als auch ein überreiches Herz verfügte, und der vor allem in der Lage war, beides miteinander zu verbinden.11 Die Überwindung von Genregrenzen entsprach also dem Plädoyer, die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, Verstand und Gefühl zu überschreiten – wohlgemerkt, ohne diese Grenze aufzulösen, denn die Überschreitung war ein männliches Privileg. Der Genregrenzen transzendierende Text war damit Ausdruck eines auf dualistischen Denkfiguren basierenden und diese Dualismen zugleich überwindenden Überlegenheits- und Herrschaftsanspruchs bürgerlicher Männer – gleichermaßen nobilitiert durch ihren Zugriff auf die Welt der Gefühle sowie durch ihre exklusive Fähigkeit, diese von "außen" kommend zu rationalisieren.

Referenzen

1 O.A., "Die drei ersten Jahre des Kindes", Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt (1875): 822-24. Es handelt sich um einen kommentierten Vorabdruck aus: Herman Semmig, Das Kind. Tagebuch eines Vaters (Leipzig: H. Hartung u. Sohn, 1876); 2. Auflg. 1876. 

2 Alle Zitate o.A., „Die drei ersten Jahre des Kindes“, 822.

3 Alle Zitate ebenda.

4 Alle Zitate ebenda, 823.

5 Alle Zitate ebenda.

6 Ebenda.

7 Alle Zitate ebenda.

8 Grundlegend und besonders anregend vgl. Catherine Lutz, Unnatural Emotions. Everyday Sentiments on a Micronesian Atoll & Their Challenge to Western Theory (Chicago: Chicago University Press, 1988), zuletzt siehe mit Hinweisen auf weitere Literatur Jan Plamper, Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte (Siedler: München, 2012).

9 William Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions (Cambridge: Cambridge University Press, 2001).

10 Till Kössler, "Die Ordnung der Gefühle. Frühe Kinderpsychologie und das Problem kindlicher Emotionen (1880-1930)," in Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880-1930, Daniel Morat and Uffa Jensen, eds. (München: Fink, 2008), 189-210.

11 Vgl. Martina Kessel, "The 'Whole Man'. The Longing for a Masculine World in Nineteenth-Century Germany," Gender & History 15 (2003), 1–31; Manuel Borutta and Nina Verheyen, "Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte," in Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, idem, eds. (Bielefeld: Transkript, 2010), 11-39.

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